Es gibt keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Menschen tatsächlich auf der Straße leben. Die Politik und Hilfsangebote verlassen sich bisher auf Schätzungen. Ab 2022 nun will das Statistische Bundesamt jährlich Daten zu wohnungslose Menschen erheben und eine zentrale Statistik veröffentlichen. Doch auch dort werden dann nur die Menschen erfasst, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind.

Wie viele Menschen auf der Straße leben, wie viele Menschen keine Wohnung haben, aber bei Familien und Freunden unterkommen – das ist nicht bekannt. Die aktuellsten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. sind aus dem Jahr 2018. Damals schätzte die BAG W die Zahl der obdach-und wohnungslosen Menschen auf 680.000. Doch durch die Pandemie dürften es noch mehr geworden sein.

Ein Drittel lebt mit Partner*in oder Kindern

Auch über die einzelnen Charaktere und Lebensumstände ist meist nur wenig bekannt. Den Schätzungen zufolge sind ungefähr 73 Prozent der wohnungslosen Menschen Männer. Rund 8 Prozent sind Kinder und minderjährige Jugendliche. Sie gehören unter Umständen zu einer Familie, denn etwa jeder dritte obdachlose Mensch lebt zusammen mit einer*m Partner*in oder Kindern zusammen.

"Wenn wir von Obdachlosigkeit sprechen, meinen wir häufig nur die Menschen, die tatsächlich auf der Straße leben. Tatsächlich sind sie aber zahlenmäßig nur die Spitze des Eisbergs."
Johan Graßhoff, Straßensozialarbeiter in Hamburg

Ein wichtiger Unterschied ist dabei immer, ob Menschen als obdachlos oder als wohnungslos gelten. Das erklärt Straßensozialarbeiter Johan Graßhoff im Interview. Als wohnungslos gelten alle, die zwar keine eigene Wohnung haben, aber dennoch einen Schlafplatz in einer Notunterkunft, im Frauenhaus oder in ähnlichen Einrichtungen finden. Obdachlos ist eine Person dann, wenn sie tatsächlich auf der Straße übernachtet.

Es ist auch deshalb so schwierig, genaue Daten zu erheben, weil es vermutlich eine beachtliche Zahl versteckter Wohnungsloser gibt. Zu ihnen zählen etwa Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben und von Familien und Freund*innen aufgenommen werden.

Immer weniger bezahlbarer Wohnraum

Die Zahl obdachloser Menschen steigt seit Jahren. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Eine einzige Ausnahme bildet Finnland, das mit dem Konzept des "Housing first" einen ganz eigenen Weg einschlägt. In ganz Europa aber gibt es nach Angaben des Europäischen Verbands nationaler Organisationen der Wohnungslosenhilfe 70 Prozent mehr Obdachlose als noch vor zehn Jahren.

Ein Grund dafür: Es steht immer weniger Wohnraum zur Verfügung, den sich Menschen und Familien mit niedrigem Einkommen leisten können. Denn die Zahl der Sozialwohnungen sinkt nach Angaben der BAWG in Deutschland stetig. Waren es 1990 noch fast 300.000, so schätzen sie die Zahl im Jahr 2020 auf nur noch knapp über 100.000. Wohnraum wird für alle knapp: Insgesamt herrscht ein Wohnraumdefizit von 12 Prozent.

Pandemie hat Situation noch weiter verschärft

Die Schätzungen und ihre Zahlen beziehen sich noch auf das Jahr 2018. Seitdem hat die Pandemie die Situation noch weiter verschärft. Nicht nur, dass viele Hilfsangebote für obdach- und wohnungslose Menschen ihr Angebot einschränken oder sogar komplett schließen mussten, es kamen laut eines Forschungsberichts des Bundesministeriums für Soziales und Arbeit auch einige Menschen hinzu, die aufgrund gekürzter Einkommen ihre Wohnung nicht mehr bezahlen konnten.

Im Bericht heißt es, dass vor allem am Anfang der Pandemie viele Vermieter*innen noch zurückhaltend mit fristlosen Kündigungen waren – doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr Kündigungen gab es dann doch. Ähnliches galt auch für Zwangsräumungen: Zu Beginn der Pandemie verzichteten Vermieterinnen und Vermieter überwiegend darauf, ein vollstreckbares Räumungsurteil sofort umzusetzen. Ab Mai 2020 stieg die Zahl der angesetzten Räumungstermine dann aber wieder.

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