Cozy oder TradwifeWarum sind Stricken und Häkeln wieder cool?

Wenn's draußen stürmt, greifen viele zu Garn und Wolle. Alte Hobbys wie Stricken sind wieder in – sie tun gut, solange kein Druck entsteht, sagt eine Therapeutin. In unsicheren Zeiten suchen wir nach Traditionellem, so eine Zukunftsforscherin.

Wenn Lena Serien schaut oder bei einem Familientreffen ist, kann sie selten untätig dasitzen. Am liebsten macht sie dabei etwas Kreatives mit den Händen. Sie strickt gerne nebenher. Oft startet sie auch mit ihrem Hobby in den Tag.

Durch ihre Oma hat Lena das Handarbeiten für sich entdeckt. Erst hat sie Kissenbezüge mit ihrer Oma genäht und dann wollte sie sich von ihr das Stricken erklären lassen, erzählt die Lehramtsstudentin. Denn sie hat bei ihren ersten Handarbeitsversuchen festgestellt, dass sie dabei nicht so viele Gedanken macht und innerlich besser zur Ruhe kommen kann.

"Stricken hilft mir runterzukommen – und ich hab dabei trotzdem das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun."
Lena, strickt und näht gerne

Die Stricktechnik ihrer Oma ist aber so schnell und routiniert, dass Lena ihrer Anleitung nicht folgen konnte. Sie hat sich dann Stricktutorials auf Youtube angesehen, um das Stricken zu lernen und zu perfektionieren.

Inzwischen ist sie so gut darin, dass sie Kleidungsstücke, die sie in Geschäften sieht, nicht kauft, sondern selbst herstellt. Auch den Cardigan zu ihrem Hochzeitskleid hat sie selbst gestrickt.

Stricken als Ausgleich im Alltagsstress

Für viele mag Stricken oder Häkeln ein langweiliges "Oma-Hobby" sein, aber Lenas Freundinnen finden ihr Talent super und sagen ihr auch, dass sie Dinge zeigen soll, die sie hergestellt hat. Das ist Lena dann manchmal etwa peinlich. Andererseits findet sie es toll, dass ihre Freundinnen ihr oftmals mehr zutrauen, als sie selbst es tut.

Es gibt Lena ein gutes Gefühl, selbst etwas Schönes herzustellen und ist für sie Ausgleich zum Alltag. Sie findet praktisch, dass sie ihr Strickzeug jederzeit zur Seite legen und sobald sie Zeit hat, wieder aufgreifen kann.

Handarbeit als Entschleunigung – aber ohne Druck

Manchmal ist Lena aber auch ungeduldig und macht selbst einen gewissen Zeitdruck. Das kann den Spaß am Hobby natürlich trüben, wenn wir uns auf Produktivität und Leistung fokussieren. Und vielleicht auch in eine Art Wettbewerb mit anderen treten, sagt Johanna Bartels, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Handarbeit kann unser Wohlbefinden positiv beeinflussen, wenn wir darauf achten, uns selbst keinen Leistungsdruck aufzuerlegen, sagt sie.

Hobbys wie Stricken können dabei helfen:

  • Den Fokus vom Sorgen machen auf die Handarbeit lenken
  • Das Gefühl von Selbstwirksamkeit zu stärken, indem wir etwas mit den Händen erschaffen
  • Achtsam im Moment sein, indem wir die Struktur der Wolle spüren und Entscheidungen darüber treffen, was wir schön finden, was wir als nächstes tun wollen
  • Vom sympathischen Nervensystem, das für Stress steht, zum parasympathischen zu wechseln, welches für Ruhe und Entspannung verantwortlich ist.
  • Uns aus Gedankenspiralen oder aus dem "Fight or Flight"-Modus holen, in den wir geraten, wenn wir uns Sorgen machen, Stress haben oder eine Bedrohung besteht
"Wir merken: Ich kann mit meinen Händen etwas verändern. Das gibt Selbstvertrauen – und ein Gefühl von Kontrolle.“
Johanna Bartels, Heilpraktikerin für Psychotherapie

Das Revival der "Oma-Hobbys" ist also mehr als Retro-Trend. Es ist möglicherweise auch eine Reaktion auf Dauerstress, Krisen und digitale Reizüberflutung. Wer strickt, näht oder gärtnert, erlebt, dass eigene Hände etwas schaffen können – und das stärkt die Selbstwirksamkeit.

Die Selbstversorger-Community, der Tradwife-Trend und die DIY-Tutorials setzen sich alle damit auseinander, wie wir selbst Dinge aus eigener Kraft und mit eigenen Ressourcen erschaffen können. Zum Beispiel Joghurt herzustellen, Gemüse zu fermentieren, Dinge zu stricken und unsere Wohnungen umzugestalten.

"Wenn ich sage, ich nehme mir Zeit für mich, indem ich zum Beispiel strike, lenke ich den Fokus von diesen ständigen Sorgen machen auf etwas anderes. Und das allein führt mich schon in die richtige Richtung."
Johanna Bartels, Heilpraktikerin für Psychotherapie

Diese Trends gehen auch mit den Erkenntnissen aus der Zukunftsforschung einher, weiß Ayaan Güls. Während jüngere Erwachsene in früheren Befragungen immer angaben, lieber in der Zukunft leben zu wollen, sagen sie inzwischen, dass sie lieber in einer Epoche der Vergangenheit leben würden.

Darin sieht die Zukunftsforscherin eine Art Gegenbewegung zu immer schnelllebigeren und unruhigeren Zeiten, die eine Sehnsucht nach der vermeintlich besseren Vergangenheit aufkomen lassen. Also, eher in vermeintlich entschleunigteren Zeiten, in denen Menschen vieles selbst hergestellt haben, statt es einfach zu kaufen.