Nach Protesten gegen Anti-KorruptionsgesetzUkraine: Wie viel Vertrauen hat Selenskyj noch?

Es waren die größten Proteste in der Ukraine seit Kriegsbeginn. Und sie zeigten Erfolg: Präsident Selenskyj stoppt ein Gesetz, das Korruptionsermittlungen schwächen sollte. Für Demonstrant Danylo, 23, ein Sieg der Straße. Wackelt Selenskyjs Macht?

In Kiew, in Odessa, in Charkiw oder in Lwiw: Tausende Menschen haben sich in den vergangenen Tagen an Demos und Kundgebungen gegen ein umstrittenes neues Gesetz beteiligt, das Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang der Woche sehr plötzlich unterschrieben hat. Ein Gesetz, dass die Arbeit der Antikorruptionsbehörden massiv einschränken sollte.

"Was macht ihr denn da, Leute? Ich war schockiert."
Danylo, Student in Kiew, hat gegen das Gesetz protestiert

Inzwischen ist Selenskyj zurückgerudert, hat ein neues Gesetz angekündigt. Doch was bedeutet das jetzt alles? Hat der ukrainische Präsident damit das Vertrauen der Bevölkerung verspielt?

Danylo hofft auf Europa

Danylo ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen und macht gerade in Kiew einen Master in sozialer Arbeit. Er betont, dass er, als junger Ukrainer, seine Zukunft nur in Verbindung mit Europa und der Europäischen Union sieht – er wünscht sich, dass die Ukraine in den nächsten zehn Jahren Mitglied der EU wird.

"Ich bin der festen Überzeugung, dass Ukrainer heute europäische Werte haben."
Danylo, Student in Kiew, hat gegen das Gesetz protestiert

Die Ukraine solle – vor allem, wenn der Krieg vorbei – kein korruptes Land sein. Die Gesetze und die verschiedenen Instrumente sieht er als sehr wichtigen Teil, um dieses Ziel zu erreichen. Das ursprünglich geplante Gesetz sei "extrem schnell" gekommen und für viele unerwartet, "weil wir in diesem Moment für die Freiheit kämpfen", so Danylo.

Proteste: "Aufgeregt, aber auch hoffnungsvoll"

Die Stimmung bei den Protesten beschreibt Danylo als "aufgeregt", aber auch "hoffnungsvoll", dass das Ganze nur ein Fehler war, den Präsident Selenskyj und die gewählten Abgeordneten bald bemerken.

Das Gesetz sei in dieser Form strikt abzulehnen, findet Danylo. Weil es dem System und der Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung in der Ukraine schade. Denn die EU-Kommission sowie die europäischen Partner der Ukraine würden ja eben fordern, dass sein Land weniger korrupt werde und Institutionen zur Korruptionsbekämpfung ausbaue.

Selenskyj und die Korruption

Das Gesetz, das im Schnellverfahren durchs Parlament gebracht wurde, sollte die beiden zentralen Antikorruptionsbehörden der Ukraine – das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung – entmachten: Sie sollten dem Generalstaatsanwalt unterstellt werden – womit sie nicht mehr unabhängig hätten arbeiten können. Der Generalstaatsanwalt wird nämlich vom Präsidenten ernannt und ist ihm unterstellt – das heißt, Selenskyj selbst hätte Einfluss auf Korruptionsermittlungen nehmen können.

Schräg – denn Wolodymyr Selenskyj wurde 2019 auch deshalb gewählt, weil er explizit versprochen hatte, die Korruption im Land zu bekämpfen.

"Das waren wirklich wirre Tage, die wir hier erlebt haben. Die offizielle Begründung ist, dass die Behörden unterlaufen sind von russischen Agenten."
Rebecca Barth, Hörfunk-Korrespondentin im ARD-Studio Kiew

Selenskyj hatte das neue Gesetz mit der Begründung verabschiedet, die beiden zentralen Antikorruptionsbehörden seien von russischen Agenten unterlaufen. Es gab einen Tag vorher Razzien im gesamten Land, berichtet unsere Kiew-Korrespondentin Rebecca Barth.

Russische Agenten in ukrainischen Behörden

Was an der Geschichte mit den russischen Agenten wirklich dran ist, lasse sich leider nicht unabhängig überprüfen, sagt sie. Es können allerdings durchaus sein, denn Russland habe die Ukraine nicht erst seit Kriegsbeginn mit seinen Agenten unterwandert. Diese seien in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein Problem und natürlich ein großes Sicherheitsrisiko.

"Russische Agenten sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein großes Sicherheitsrisiko in der Ukraine."
Rebecca Barth, Hörfunk-Korrespondentin im ARD-Studio Kiew

Die Menschen nehmen dem Präsidenten seine Argumentation trotzdem nicht ganz ab, sagt Rebecca Barth. "Denn man löst das Problem von russischen Agenten ja nicht, indem man diesen Behörden die Unabhängigkeit nimmt."

Schützt Selenskyj seine Leute?

Was steckt also wirklich dahinter? Viele Beobachter vermuten, dass der Präsident selbst und/oder sein engster Vertrauter Andrij Jermak, der mächtige Leiter des Präsidialamtes, versuchen, die eigenen Leute zu schützen, sagt Rebecca Barth.

Die bislang unabhängigen Behörden ermitteln nämlich wegen Korruption auch gegen Beamte auf höchster staatlicher Ebene – auch gegen mehrere Parlamentsmitglieder, darunter Vizepremier Olexij Tschernyschow, Minister für nationale Einheit und ein enger Vertrauter Selenskyjs.

Viele hätten schon überhaupt nicht verstanden, was das "Ministerium für nationale Einheit" überhaupt sei. Vor einigen Tagen habe es dann einen Regierungsumbau gegeben, in dessen Zuge das Ministerium geschlossen wurde. Das habe "alles ein bisschen merkwürdig im größeren Kontext" gewirkt, findet Rebecca Barth.

"Wie kann man so viel riskieren zum jetzigen Zeitpunkt? Und dann auch noch auf so eine Art und Weise? Jetzt rudert Selenskyj ja zurück – aber der Schaden, der Vertrauensverlust bleibt."
Rebecca Barth, Hörfunk-Korrespondentin im ARD-Studio Kiew

Die Frage, die sich aufdrängt: Selenskyj hätte wissen können oder sogar müssen, dass ein solcher Gesetzentwurf massive Proteste hervorrufen wird – und dass er damit auch den angestrebten Beitrittsprozess mit der EU gefährdet.

Was kann der neue Entwurf?

Selenskyj hat dem Parlament inzwischen einen neuen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden garantieren soll – und zudem Überprüfungsmöglichkeiten beinhaltet, so dass es keine russische Einflussnahme mehr geben soll.

Am neuen Gesetzentwurf, der sehr schnell ausgearbeitet wurde, haben auch Vertreter des Nationalen Antikorruptionsbüro (Nabu) sowie der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung mitgearbeitet. Auch Anti-Korruptions-Aktivisten sagen wohl, der Entwurf sehe gar nicht schlecht aus, sagt Rebecca Barth. Allerdings sei das Parlament gerade offiziell in der Sommerpause und es sei noch nichts verabschiedet.

Die Öffentlichkeit habe sich dadurch zwar etwas beruhigt – für Entwarnung sei es aber noch zu früh, haben Aktivist*innen unserer Korrespondentin erzählt.