WaffenruheKein Krieg in Gaza bedeutet noch lange nicht Frieden

Zwischen Israel und der Hamas gilt eine Waffenruhe. Doch viele Menschen haben alles verloren. Der Arzt Amar Mardini begegnet ihnen jeden Tag. Wie blicken sie auf ihr Leben? Und wie geht es weiter mit dem Friedensplan für den Gazastreifen?

Die Situation im Gazastreifen ist katastrophal und wird mit den anhaltenden Regenfällen der letzten Tage zunehmend schlimmer, erzählt der Amar Mardini.

Er ist Arzt und gerade wieder im Gazastreifen im Einsatz. Seit November arbeitet er dort für die Hilfsorganisation Cadus. Sonst ist er an der Uniklinik in Rostock tätig.

Patienten sind unterversorgt

Am Tag behandelt er 20 bis 40 Patient*innen. Der ganz akute Krieg ist vorbei, dennoch bleibt die Versorgung der Menschen sehr schwierig. Amar Mardini erlebt selbst mit, dass lebensrettende Medikamente oft nicht verfügbar sind und wie Infektionen entstehen, weil kaum ein Wundverband trocken bleibt.

"Unser Feldkrankenhaus stand gestern knöchelhoch unter Wasser."
Amar Mardini, Arzt

Die Ärzt*innen im Feldkrankenhaus in der palästinensischen Stadt Deir Al-Balah routieren, sie sind für eine gewisse Zeit im Einsatz und werden dann mit anderen Fachkräften ausgewechselt.

"Es fühlt sich so an, als ob man, das eine Feuer, das gerade vor einem ist, versucht klein zu halten, aber drei weitere hinter einem direkt wieder auflodern."
Amar Mardini, Arzt

Amar Mardini ist zum fünften Mal vor Ort. Seit der offiziellen Waffenruhe hat er keine Patienten mit Wunden von Schüssen oder Luftschlägen gesehen, stattdessen kommen Patienten mit Schlaganfällen, Herzinfarkten und diabetischen Komas zum ihm.

Arzt Amar Mardini bei seinem Einsatzfür eine Hilfsorganisation im Gazastreifen
"Wir sehen die Folgen von zwei Jahren Krieg: Wir haben Patienten mit Herzinfarkten oder Schlaganfällen bei uns, weil in den letzten zwei Jahren die Medikamente nicht da waren und weiterhin nicht zur Verfügung stehen."
Amar Mardini, Arzt

Die akuten Erkrankungen sind oft eine Folge der Unterversorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten und Insulin. Das Fehlen von Messgeräten, die beispielsweise bei Diabetes die richtige Dosierung ermöglichen, verursacht auch medizinische Notfälle, erklärt Amar Mardini.

Arzt: Hilfsorganisationen müssen freien Zugang erhalten

Es breiten sich auch übertragbare Krankheiten aus: zum Beispiel Atemwegsinfekte und Durchfallerkrankungen. Man müsse sich überlegen, dass das Abwassersystem teilweise über die Straßen läuft, erklärt der Arzt.

Wenn ein Gebiet überflutet ist, dann läuft das Wasser überall hin, sagt Amar Mardini, das heißt bespielsweise auch in die Notzelte, in den Menschen untergebracht sind. Dementsprechend nehme die Zahl der medizinische Fälle weiter zu, sagt der Arzt.

Arzt Amar Mardini bei seinem Einsatzfür eine Hilfsorganisation im Gazastreifen
"Freier Zugang zum Gazastreifen für humanitäre Hilfe, das ist das Dringendste. Es muss mehr reinkommen, es muss vor allem unabhängig reinkommen können."
Amar Mardini, Arzt

Am wichtigsten sei es jetzt, dass die Hilfsorganisationen freien Zugang zum Gazastreifen erhielten, damit sie die Menschen versorgen könnten, erklärt der Mediziner.

Das ist zurzeit allerdings noch schwierig, weil der Friedensplan für den Gazastreifen sich noch in der ersten Phase befindet. Der Gazastreifen ist bisher noch in verschiedene Zonen aufgeteilt. In dem Gebiet, das als blaue oder auch grüne Zone bezeichnet wird, der Amar Mardini ist sich da nicht ganz sicher, ist es ruhig.

Die gelbe Zone ist eine Art "Kill Zone"

Allerdings hört der Arzt noch täglich Schusswechsel und auch Luftschläge aus der gelben Zone, wenn er sich im Gästehaus der Ärzte befindet, das auf einem Hügel gelegen ist. Die gelbe Zone ist der Bereich, der noch von der israelischen Armee besetzt ist.

Auch unser Korrespondent in Tel Aviv, Jan-Christoph Kitzler, bestätigt, dass die gelbe Zone eine Art "Kill Zone" sei. Sie sei mit einem gelben Streifen markiert – wer sich diesem nähere, laufe Gefahr, erschossen zu werden.

Zwar herrscht offiziell seit rund zwei Monaten ein Waffenstillstand, aber in der Realität sieht es anders, bestätigt unser Korrespondent. Die Waffenruhe werde zwar weiter Waffenruhe genannt, sagt er, aber es gebe jeden täglich Beschuss, Angriffe und Tote. Und eine furchtbare humanitäre Lage im Gazastreifen, die weiterhin bestehe, sagt Jan Christoph Kitzler.

Terrororganisation Hamas profitiert vom Andauern des Friedensplans

Seit dem 10. Oktober hält die erste Phase des Friedensplans nun schon an. Wann sie abgeschlossen wird, kann man nicht abschätzen, sagt unser Korrespondent. Auch wenn der israelische Premierminister bereits geäußert hat, dass sie fast abgeschlossen sei, könne sie noch eine ungewisse Zeit lang an dauern. Zu dieser ersten Phase gehört zum Beispiel auch dazu, dass alle israelischen Geiseln gefunden werden. Ein Toter muss noch geborgen werden, das sei allerdings schwierig, heiße es.

Eine Normalisierung der Lage wird wohl noch Jahre dauern

Falls der US-Präsident Donald Trump sich entscheidet, von sich aus das Ende der ersten Phase auszurufen, könnte das zu einer Beschleunigung des Prozesses führen, sagt Jan-Christoph Kitzler.

Bis die Situation der Menschen vor Ort sich verbessert, werden mindestens noch fünf bis zehn Jahre vergehen, davon ist der Arzt Amar Mardini überzeugt. Das Andauern dieses Prozesses spielt aber auch der Terrorgruppe Hamas in die Karten, gibt unser Korrespondent Jan-Christoph Kitzler zu Bedenken.

Je mehr Zeit vergeht, bevor der Friedensplans umgesetzt ist, desto wahrscheinlich ist es, dass die Terrororganisation Hamas die Chance hat, sich neu zu formieren und Einfluss auf die Bevölkerung zu nehmen, sagt unser Korrespondent Jan-Christoph Kitzler.