Marlies Hübner über Autismus:"ABA ist eine ganz gefährliche Sache"

Seit den 1960er Jahren wird die ABA-Therapie zur Behandlung autistischer Kinder angewandt. Marlies Hübner, Autistin, kritisiert die Therapie, die den Kindern jegliche Persönlichkeit abspreche.

In den 1960er Jahren entwickelte der norwegische Psychologe Ole Ivar Lovaas an der University of California in Los Angeles die Applied Behavior Analysis (ABA). Ziel der Therapie ist es, mittels Bestrafung unerwünschtes und mittels Belohnung erwünschtes Verhalten bei autistischen Kindern herbeizuführen. Der Verhaltenspsychologe hat seine Methode teils mit extrem rigiden Mitteln wie Elektroschocks umgesetzt.

"Es werden zwar keine Elektroschocks und Schläge mehr eingesetzt, dafür sind die Bestrafungen sehr viel subtiler."
Marlies Hübner

Die Methode wurde seitdem weiterentwickelt, Elektroschocks werden nicht mehr verabreicht. Die "Aktion Mensch" unterstützt seit 2014 ein auf drei Jahre angelegtes ABA-Pilotprojekt beim Institut für Autismusforschung. Trotzdem kritisiert die Autistin Marlies Hübner die ABA-Therapie heftig.

"ABA ist eine ganz gefährliche Sache, die maßlos unterschätzt und instrumentalisiert wird und über die es viel zu wenig Aufklärung gibt."
Marlies Hübner

Auf die Eltern wird Druck ausgeübt

Autistische Kinder rutschen in das "Tragödienmodell Behinderung", weil das von unserer Gesellschaft so vorgesehen ist, sagt sie. Für die Eltern ist das ein Schock: "Oh Gott, mein Kind ist behindert." So beschreibt Marlies Hübner das Grundproblem. "Aber ein Kind mit einer Behinderung ist kein Weltuntergang", sagt sie. Doch sehr schnell würden Menschen auf den Plan treten, die im Rahmen dieses Tragödienmodells die Chance witterten, Geld mit der Behandlung von autistischen Kindern zu machen.

Ausgehend von dieser Grundsituation werde auf die Eltern Druck ausgeübt: Wenn sie nicht rasch handelten, dann verwahrlose ihr Kind und würde nie irgendetwas lernen.

"Man spricht Autistinnen und Autisten allein die Möglichkeit zur Entwicklung komplett ab."
Marlies Hübner

Dem austistischen Kind werde auch jegliche Persönlichkeit abgesprochen, erklärt Marlies Hübner: "Das weiße Blatt wird dann nach Wunsch neu beschrieben. Verkürzt heißt das: Autistische Verhaltensweisen werden durch Drill abtrainiert", sagt sie.

"Bei ABA ist es so, dass sich über die Autonomie des Kindes hinweggesetzt wird und verlangt wird, dass es Berührung aushält, obwohl es das nicht möchte."
Marlies Hübner

Marlies Hübner erklärt, dass autistische Kinder eine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit haben. Bei ihr selbst wurde erst im Alter von 27 Jahren Autismus diagnostiziert. Das sei gerade bei Autistinnen und Autisten ihrer und früherer Generationen der Fall. Ihr Glück war, das ihre Eltern sehr liebevoll und bemüht waren und ihr eine sichere Umgebung geboten haben.

"Meine Mutter hat mit sehr viel Liebe und Herzblut meine autistischen Verhaltensweisen, die damals noch unbekannt waren, akzeptiert und damit gearbeitet. Ich hatte eine sehr normale Kindheit."
Marlies Hübner

Was aus ihr geworden wäre, wenn sie mit der ABA-Therapie behandelt worden wäre, ist für Marlies Hübner eine kaum zu beantwortende hypothetische Frage. Als Autistin hat sie den Drang, alles ganz genau beantworten zu wollen. Sie versucht es dennoch. Die Autistin glaubt, dass man ihr mit der ABA-Therapie ihre Autonomie genommen hätte, ihr "Nein" abtrainiert hätte, man hätte ihr gezeigt, dass ihr Wille keine Bedeutung gehabt hätte. Womöglich hätte das posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen oder Selbstverletzungsverhalten nach sich gezogen, vermutet Marlies Hübner.

Ihr Hauptkritikpunkt an der aktuellen ABA-Debatte:

"Wir als Autistinnen und Autisten werden nicht für voll genommen. Unsere Selbstvertretung wird nicht ernst genommen. Es ist ganz wichtig für Menschen mit einer Behinderung, dass sie für sich selbst sprechen können und sich selbst vertreten. Das wird uns nicht gegeben."
Marlies Hübner

Nach Ansicht von Marlies Hübner gibt es sinnvolle Therapieansätze: Zum Beispiel Ergotherapie, Förderung der Kommunikation, Alltagstrainings. Diese müssten immer damit einhergehen, dass der autistische Mensch als gleichwertige, mündige Person betrachtet wird.

"Das wichtigste für mich ist: Begegne den Menschen auf Augenhöhe, nimm sie ernst, frag sie, was sie möchten. Augenhöhe, Gleichberechtigung und das Anerkennen der Selbstvertretung ist sehr wichtig."
Marlies Hübner

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