SchamgefühlVoll peinlich – wer entscheidet das?
Das ist so cringe – oder? Laura teilt offen peinliche Situationen aus ihrem Alltag. Damit möchte sie auch Themen normalisieren, die andere als Tabu verstehen. Wie machtvoll es sein kann, sich der Scham zu widersetzen, erklären zwei Expertinnen.
Laura testet ihre Schamgrenze gerne aus. Was ist eigentlich peinlich und wer entscheidet das? Darüber spricht sie auch auf ihren Socials. Eine Geschichte aus ihrem Alltag haben besonders viele Menschen mitbekommen – das Video ist viral gegangen.
"Die Dinge, die ich mache, sind mir trotzdem total unangenehm. Nur ich glaube, die Aufgabe ist es, es trotzdem zu tun."
Es geht um eine Bahntoilette. In dem Video erzählt sie, dass sie dort auf dem Klo ihr großes Geschäft gemacht hat, die Nummer zwei – einfach ausgedrückt – kacken war. Manche Menschen würden das unter Umständen so peinlich finden, dass sie es niemals laut aussprechen würden – Laura aber nicht. Wenn sie etwas lustig findet, spricht sie offen darüber. Auch auf Social Media.
In den meisten Fällen fragt sie sich vor dem Posten zwar schon, ob sie Geschichten wie die von der Bahntoilette wirklich auch öffentlich teilen möchte, sagt sie. Es kommt zum Beispiel der Gedanke in ihr auf, was andere davon halten könnten. "Aber genau dann denke ich mir: Es ist ein Teil von mir. Ich rede im Freundeskreis oder mit meiner Familie offen darüber. Wenn andere Leute das unangenehm oder schlimm finden, sind das halt nicht meine Leute", so Laura.
"Ich glaube nicht, dass ich es irgendwann bereuen werde, weil es – Stand jetzt – Teil meines Lebens ist und es sich gut anfühlt, diese Dinge anzusprechen."
Mit dieser Einstellung fährt sie ziemlich gut. Sie postet das, was ihr gerade in den Sinn kommt. Unangenehm ist es ihr manchmal trotzdem. Aber sie möchte die Sorge, etwas könnte zu peinlich sein, ablegen. "Ich glaube, im echten Leben sowie auf Social Media funktioniert es immer am besten, wenn man – so gut es geht – die authentischste Version seiner selbst ist", sagt Laura. Mit ihrer Offenheit möchte sie auch Themen normalisieren, die andere für ein Tabu halten.
Die Macht des Schamgefühls
Damit führt Laura in gewisser Weise fort, wofür sich Frauen in den 1960er-Jahren schon eingesetzt haben. "Körperfunktionen zu thematisieren, zu thematisieren, wenn man sich schämt, beschämt wird oder sich gegen diese Scham zu stellen, war zum Beispiel im Zuge der zweiten Frauenbewegung schon Thema", erklärt Erziehungswissenschaftlerin Flora Petrik von der Uni Tübingen.
"Gerade, dass junge Frauen die Scham ablegen, darüber zu sprechen, sind die Früchte der feministischen Bewegungen der letzten Jahre und Jahrzehnte."
Was früher die Menstruation war, ist heute der Stuhlgang-Talk. Gegen das Schamgefühl, das bei beidem wirken kann, habe die feministische Bewegung über viele Jahre hinweg Widerstand geleistet – mit Erfolg.
Heute gebe es durch Social Media zwar noch mal mehr Mittel, andere zu beschämen. Aber der Zweck dahinter sei gleich geblieben: Eine Person in Verlegenheit zu bringen oder sie auf eine bestimmte Art bloßzustellen, ist eine Ausübung von Macht, so die Erziehungswissenschaftlerin, und ein Instrument, die Person auf ihren Platz zu verweisen.
"Die eigene Scham öffentlich zu machen, wird in Zeiten von Influencertum auch zum Kapital gemacht."
Sich dem zu widersetzen, indem man zum Beispiel öffentlich ein Video auf Social Media postet, habe zwei Komponenten. Einerseits könne Scham so etwas Performatives bekommen. Wer mit dem Posten von Inhalten Geld verdient, bei dem können auch Videos über eine peinliche Geschichte darauf einzahlen.
Andererseits gehe es beim öffentlichen Teilen auch darum, den Zusammenhalt zu stärken. "Social Media kann zum Beispiel genutzt werden zu erkennen, mit der Scham nicht alleine zu sein. Die Scham zu thematisieren, sie auch vielleicht performativ darzustellen und sich dann in Kommentarspalten unter einem Tiktok-Video zu vernetzen", sagt Flora Petrik. Es gehe also darum, Scham in gewissem Maße zu entmachten.
Die Scham überwinden
Dass uns etwas peinlich ist, hat eine auch eine bestimmte Funktion. Vereinfacht gesagt, ist das ein alter Schutzmechanismus, nicht von der Gruppe verstoßen zu werden. "Wer sich daneben benimmt, hat sich geschämt und dadurch eben gelernt, sich wieder gruppenkonform zu verhalten", sagt Psychologin und Psychotherapeutin Celline Cole. Das stecke in allen von uns.
Wofür wir uns schämen und was wir als unangebracht empfinden, sei aber durch unser jeweiliges Umfeld geprägt und damit unterschiedlich.
"Früher war Alleinsein lebensgefährlich. Wer sich daneben benimmt, hat sich geschämt und dadurch eben gelernt, sich wieder gruppenkonform zu verhalten."
Wer sein Schamgefühl ablegen möchte, der kann eine Methode aus der Verhaltenstherapie ausprobieren. Bei der geht es darum, sich bewusst in eine peinliche Situation zu begeben, erklärt die Psychotherapeutin. Das könne zum Beispiel lautes Singen mitten in einer vollen Innenstadt sein. Ziel ist die Erkenntnis, diese unangenehme Situation aushalten zu können. Häufig reagiert die Umwelt auch harmloser, als wir es befürchten, sagt sie.
Im Kern gehe es darum, seine eigenen Glaubenssätze und Bewertungen darüber, was peinlich ist, zu hinterfragen. Negative Bewertungen können so durch positive ausgetauscht werden. Wer diese Herangehensweise trainiert und irgendwann verinnerlicht, der könne der Scham und Angst vor Bewertung die Macht nehmen.