"Erschleichen von Leistungen"Warum Menschen ohne Ticket immer noch im Knast landen
Wer ohne Ticket Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat. Mehrere Tausend Menschen landen im Gefängnis, weil sie die Strafe nicht zahlen (können). Kritik daran gibt es schon lange. Geändert hat sich noch nichts, weil die Politik uneinig ist.
Eine Geldübergabe im Gefängnis. 10.000 Euro in bar. Das klingt vielleicht erst einmal shady, hatte aber alles seine Richtigkeit: Anfang September wurden fünf Männer und eine Frau aus der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main I freigekauft.
Sie saßen dort wegen Paragraf 265a, "Erschleichen von Leistungen". Auf Deutsch: Sie sind mehrmals ohne Ticket Bus oder Bahn gefahren. Diesen Paragrafen gibt es seit 90 Jahren, er stammt noch aus der Nazi-Zeit.
Wer die Geldstrafe nicht zahlt, kommt ins Gefängnis
Grundsätzlich ist es so, dass die Verkehrsbetriebe Anzeige erstatten können, wenn sie jemanden ohne Fahrschein erwischen. Die meisten machen das aber erst, wenn es häufiger vorkommt. Und manche – etwa in Köln, Düsseldorf, Mainz, Wiesbaden und Potsdam – zeigen Menschen gar nicht mehr an.
Die Angezeigten aus Frankfurt wurden zu einer Geldstrafe verurteilt, konnten (oder wollten) die aber nicht bezahlen. Deshalb mussten sie eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Sie landeten also im Gefängnis.
"Gefängnisse schreiben uns an und sagen: 'Hey, wir haben hier wieder eine Person, die gehört hier nicht her, bitte kauft die doch frei.'"
Die Initiative Freiheitsfonds zahlte schließlich die Strafen der Häftlinge und die durften dafür raus aus dem Gefängnis. Der Journalist und Aktivist Arne Semsrott hat den Freiheitsfonds Ende 2021 gegründet. Die Initiative setzt sich dafür ein, den Paragrafen abzuschaffen, und kauft immer wieder Menschen aus dem Knast frei.
Doch woher weiß er Freiheitsfonds überhaupt, wer wegen Paragraf 265a im Gefängnis sitzt? "Absurderweise sind unsere Hauptquelle die Gefängnisse selbst. Die schreiben uns an und sagen: 'Hey, wir haben hier wieder eine Person, die gehört hier nicht her, bitte kauft die doch frei'", erzählt Arne Semsrott.
Experten fordern eine Reform von Paragraf 265a
In neun von zehn Fällen, schätzt er, sind es die Sozialdienste, Sozialarbeiterinnen oder die Gefängnisfürsorge, die sich an die Initiative wenden. In den anderen Fällen Verwandte oder Bekannte.
"Das zeigt, wie absurd dieses System ist: Der Staat ruft auf der einen Seite dieses Problem durch diese absurde Strafgesetzgebung hervor. Und auf der anderen Seite wendet sich der Staat an uns, eine ehrenamtliche Initiative, und sagt: Dieser Missstand muss behoben werden", sagt Arne Semsrott.
"Leute, die tatsächlich deswegen in den Knast müssen, befinden sich in Krisensituationen."
Indem der Freiheitsfonds die Geldstrafen der Häftlinge zahlt, spart der Staat – und damit alle Steuerzahlenden – viel Geld. Denn ein Haftplatz kostet monatlich rund 6000 Euro. Insgesamt, rechnet Arne Semsrott vor, habe der Staat durch die Initiative rund 21 Millionen Euro gespart.
Doch wer kommt überhaupt ins Gefängnis, weil er oder sie ohne Ticket Bus oder Bahn gefahren ist? "Wir können ganz grundsätzlich davon ausgehen, dass Leute, die tatsächlich in den Knast müssen, sich in Krisensituationen befinden", erklärt Arne Semsrott: Menschen ohne Erwerbsarbeit, Wohnungs- und Obdachlose, suizidale Menschen.
Eine junge Mutter sollte ins Gefängnis
"Das sind Leute, die wirklich in einer Extremsituation sind, also Leute, die entweder die Post vom Amt gar nicht bekommen oder, wenn sie die bekommen, nicht in der Lage sind, die zu öffnen. Sie erfahren dann erst davon, dass sie in der Strafverfolgung sind, wenn die Polizei an der Wohnungstür klopft", ergänzt der Journalist und Aktivist.
Ein Fall ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Eine junge Mutter mit einem wenige Wochen alten Baby, die wegen der Schwangerschaft und all dem Stress ihre Raten nicht zahlen konnte. "Da hat uns das zuständige Jugendamt angerufen und gefragt, ob wir nicht was tun können."
7000 bis 9000 Menschen müssen pro Jahr in den Knast
Er fordert deshalb, den Paragrafen 265a ganz zu streichen. Doch ist das nicht unfair, weil die Mehrheit der Fahrgäste ja ein Ticket bezahlt? Arne Semsrott findet: Nein. Denn wenn man ohne Ticket erwischt wird, müsste man ja immer noch die 60 Euro – das sogenannte erhöhte Beförderungsentgelt – zahlen. Wer das nicht zahlt, bekommt eine Mahnung, ein Inkassobüro kommt, vielleicht der Gerichtsvollzieher.
"Wir wollen streichen, dass der Staat zusätzlich dazu noch eine Geldstrafe verhängt", hält er fest. "Die Verkehrsunternehmen sollen das erhöhte Beförderungsentgelt eintreiben, die sollen nicht den Staat zu ihrem Inkassounternehmen machen. Das wäre eine saubere, direkte Lösung."
Wie viele Menschen in Deutschland wegen Paragraf 265a ins Gefängnis kommen, lässt sich nur schätzen: 7000 bis 9000 Fälle gibt es wohl pro Jahr. Im vergangenen Jahr sah es danach aus, als könnte sich das ändern.
CDU/CSU wollen den Paragrafen nicht streichen
Denn die Ampelregierung hatte vor, aus der Straftat eine Ordnungswidrigkeit zu machen, erklärt Deutschlandfunk-Nova-Reporter Gregor Lischka. Doch die Ampel zerbrach, aus dem Vorhaben wurde nichts. Und die neue Regierung? Die Union ist skeptisch. Eine Lockerung könne als Einladung gesehen werden, kein Ticket mehr zu kaufen.
In den Koalitionsverhandlungen konnte sich die SPD mit der Forderung, den Paragrafen zu streichen, nicht durchsetzen. Viele Fachleute und Verbände, etwa der Deutsche Richterbund oder der Deutsche Anwaltverein, fordern schon lange eine Reformierung. Ob das unter Schwarz-Rot geschieht, ist derzeit jedoch völlig unklar.