GazaDie Wahrheit über die Luftbrücke
Millionen Menschen hungern in Gaza. Jetzt wirft auch Deutschland Hilfsgüter per Fallschirm ab. Doch am Boden tobt der Krieg weiter. Was bringt die Luftbrücke wirklich? Ein Bundeswehrsoldat erzählt, wie der Einsatz abläuft und was er dabei erlebt.
Zwei Stunden war Dieter als Einsatzpilot bei der Bundeswehr in der Luft, um im Rahmen der Luftbrücke Hilfsgüter über Gaza abzuwerfen: insgesamt 250 Tonnen, Reis, Mehl und Fertiglebensmittel – Essen für etwa 400.000 Menschen. Direkt nach der Landung schildert er seine Eindrücke. Er ist erschüttert von dem Ausmaß der Zerstörung.
"Es ist ein erschreckendes Bild. Man sieht auf den allerersten Blick, mehr als 50 Prozent der Häuser sind zerstört."
Die Flieger der Bundeswehr starten in Jordanien, wo sie zuvor beladen werden. Vor dem Start findet ein gemeinsames Briefing mit anderen Nationen statt, bei dem der Ablauf der Mission genau abgestimmt werde – etwa, wer wann wo sei und wer welche Lasten abwerfe, so der Pilot.
Luftbrücke nach Gaza: Zehn Minuten Flug gegen den Hunger
Anschließend würden die Maschinen in einer Staffel und auf gleicher Höhe in Richtung Gazastreifen fliegen. Der Aufenthalt im Luftraum über dem Gazastreifen dauere lediglich zehn Minuten, bevor die Maschinen das Gebiet wieder verlassen und auf derselben Route zurückkehren.
Der Korridor für die Flugzeuge über Gaza sei extrem schmal und müsse exakt eingehalten werden. Dabei dürfe die Grenze nicht überflogen werden. Über der sogenannten Drop-Zone würden die Hilfsgüter möglichst präzise abgeworfen. Deutschlandfunk-Reporterin Felicitas Boeselager ist bei einem Einsatz der Bundeswehr mitgeflogen. Sie beschreibt im Gespräch ihre Eindrücke. (Um es ganz zu hören, klickt im Zitat auf Play.)
"Der Pilot hat mir im Nachhinein erzählt, dass die Paletten genau dort gelandet sind, wo er sie haben wollte."
Der Pilot Dieter betont, man könne den Abwurf der Hilfsgüter nahezu hundertprozentig absichern, damit keine Häuser, Zelte oder Menschen getroffen werden. Die Zonen würden mithilfe tagesaktueller Satellitenbilder geprüft, ungeeignete Flächen abgelehnt. Nur freie Felder ab 600 mal 300 Metern kämen infrage. Das System sei erprobt, die Besatzung geschult. Wenn kurz vor dem Abwurf Personen dort gesehen würden, werde abgebrochen.
Kritik an der Luftbrücke: Teure Hilfe, wenig Wirkung
Vielfach wird kritisiert, dass die Luftbrücke nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sei und wenig helfe. Eine Luftbrücke wird normalerweise eingesetzt, wenn Gebiete auf dem Landweg nicht erreichbar sind – etwa nach Naturkatastrophen wie schweren Erdbeben, sagt Jan-Christoph Kitzler, Korrespondent in Tel Aviv.
Im Gazastreifen ist das jedoch nicht der Fall. Trotz der Zerstörung gibt es Straßen, auf denen das israelische Militär unterwegs ist und auf denen auch Lkw fahren könnten - eigentlich. Die Versorgung aus der Luft sei daher grundsätzlich nicht zwingend notwendig.
Zudem ist eine Luftbrücke extrem kostspielig: Luftabwürfe kosten laut Kritikern mindestens das Hundertfache einer Lkw-Lieferung. Hinzu kommt, dass ein einzelner Lkw etwa doppelt so viel transportieren kann wie die meisten der eingesetzten Flugzeuge. LkwLieferungen wären theoretisch deutlich effektiver und könnten viel stärker dazu beitragen, die Hungerkrise im Gazastreifen zu lindern.
Fehlende Hilfe: Gegenseitige Vorwürfe und keine Sicherheit
Vor den Grenzübergängen zum Gazastreifen stehen Hunderte Lkw mit Hilfsgütern bereit. Hilfsorganisationen warten nur darauf, einreisen zu dürfen. Doch der Zugang bleibt schwierig. Israel verweist auf die Vereinten Nationen: Die Fahrzeuge müssten von der UN abgeholt werden. Der Vorwurf lautet, die UN komme ihrer Verantwortung bei der Verteilung nicht nach.
"Die Schuld wird gegenseitig zugeschoben."
Ganz anders klingt es von Seiten der UN: Ihre Vertreter berichten, die Lkw würden schlicht nicht von Israel ins Land gelassen. Zudem sei eine sichere Verteilung im Gazastreifen kaum möglich – es fehle an Schutz und die militärische Lage sei weiterhin unübersichtlich. Die UN sehen Israel als Besatzungsmacht in der Pflicht, für sichere humanitäre Versorgung zu sorgen. Dem komme das Land jedoch nicht nach. Währenddessen dauern die Kämpfe an, sodass eine sichere Verteilung in vielen Gebieten ohnehin kaum möglich ist.
Die Lage der Zivilbevölkerung bleibt dramatisch
Aus deutschen Sicherheitskreisen heißt es, viele Hilfsgüter landeten bei der Hamas oder bei Kriminellen. Unser Korrespondent relativiert: Die Hamas kontrolliere nicht mehr ganz Gaza, viele Gebiete stünden unter israelischer Kontrolle. Es gebe zwar Hinweise darauf, dass manche Hilfsgüter abgefangen oder auf dem Schwarzmarkt landen, dennoch erreiche ein Teil die notleidende Bevölkerung.
"Da kamen Leute, die haben sich das Mehl-Sandgemisch in den Mund geschoben."
Die Lage der Zivilbevölkerung bleibt dramatisch, berichtet er. Zwar gibt es auf den Märkten Waren zu kaufen, doch die Preise sind extrem hoch: Ein Kilo Mehl kann bis zu 50 Dollar kosten. Einzelne machen mit der Not riesige Geschäfte. Die Verzweiflung ist so groß, dass Menschen sich sogar Mehl-Sand-Gemische vom Straßenboden in den Mund schieben, berichtet unser Korrespondent. Auch kommt es zu Plünderungen von Hilfstransporten – oft nicht durch bewaffnete Gruppen, sondern durch hungernde Zivilisten, die um ihr Überleben kämpfen, sagt er.
Waffenruhe könnte wieder Lkw-Lieferungen ermöglichen
Unser Korrespondent hält die Luftbrücke für symbolisch – besser als nichts, aber nicht ausreichend. Effektiver wären mehr Lkw-Lieferungen, so seine Einschätzung. Dafür müsse Israel stärker unter Druck gesetzt werden. In der Feuerpause im Januar und Februar hat das gut funktioniert, sagt er: Damals kamen viele Hilfsgüter ins Land, die Lage entspannte sich spürbar. Doch dafür braucht es erneut eine Waffenruhe.
Die Kritik an der Luftbrücke hält der Bundeswehrpilot Dieter derzeit für nicht gerechtfertigt: Solange der Landweg geschlossen sei, könne man die Menschen in Gaza nicht verhungern lassen. "Die einzigen Hilfsgüter, die aktuell ankommen, kommen über die Luftbrücke", sagt er. Der Einsatz habe Tausenden das Leben gerettet. Natürlich müsse politisch weiter an einer Öffnung gearbeitet werden – aber bis dahin bleibe dies der einzige Weg.
Netanjahu will den Krieg ausweiten
Ein schockierendes Video der Hamas, das eine abgemagerte Geisel beim Schaufeln ihres eigenen Grabs zeigt, hat in Israel erneut Tausende Menschen auf die Straße gebracht. Sie fordern ein Ende des Kriegs und einen Deal zur Freilassung der Geiseln. Die Mehrheit glaubt nicht, dass der Krieg sie befreien kann – militärisch wurden bislang nur wenige Geiseln gerettet, die meisten kamen durch Absprachen mit der Hamas frei.
Ministerpräsident Netanjahu kündigte an, den Krieg im Gazastreifen auszuweiten – das Gegenteil dessen, was viele Angehörige der Geiseln fordern. Zwischen Militärführung und Politik wächst der offene Konflikt. Nach vorliegenden Informationen spricht sich auch das Militär gegen weitere Offensiven in möglichen Geiselgebieten aus – aus Sorge, das Leben der Geiseln zu gefährden.