Wenn die Opferperspektive zu kurz kommtWie einseitig geschlechtsspezifische Gewalt im Fernsehen gezeigt wird

Tatort, Großstadtrevier, Morden im Norden... Krimis und Geschichten rund um Gewalt, Mord und Totschlag kommen beim deutschen TV-Publikum offenbar gut an. Eine Studie hat jetzt untersucht, wie geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen abgebildet wird. Ergebnis: Die Perspektive der Betroffenen wird nur in den wenigsten Fällen fokussiert. Und: Hilfsangebote werden kaum sichtbar.

Geschlechtsspezifische Gewalt ist Gewalt, die Menschen aufgrund ihres sozialen oder biologischen Geschlechts erfahren, erklärt Studienleiterin Christine Linke. Sie hat die Studie gemeinsam mit Promovendin Ruth Kasdorf im Rahmen eines Forschungsprojekt der Hochschule Wismar durchgeführt.

"Geschlechtsspezifische Gewalt ist Gewalt, die Menschen aufgrund ihres sozialen oder biologischen Geschlechts erfahren."
Christine Linke, Hochschule Wismar

Sehr häufig gehe es um Gewalt, die in Ungleichheitsverhältnissen erfahren wird – wenn es also eine Machtdifferenz gibt, zum Beispiel in einer Beziehung. Der Komplex häusliche Gewalt, auch sexuelle Gewalt, gehört dazu. Ebenso wie die Gewalt gegenüber Kindern, die sich in einem Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis gegenüber ihren Erziehungsberechtigten befinden. Auch Gewalthandlungen als Reaktion auf eine bestimmte sexuelle Orientierung seien in dem Begriff "geschlechtsspezifische Gewalt" miteingeschlossen.

Vielseitige Formen der Gewalt

In der Studie wird Gewalt gemäß der Istanbul-Konvention sowohl als körperliche, sexuelle, psychische wie auch wirtschaftliche Gewalt verstanden. Im letzten Fall bekommt also zum Beispiel eine Person einen bestimmten Job nicht, weil sie oder er das "falsche" Geschlecht hat oder eine bestimmte Sexualität lebt.

Für die Studie wurden – repräsentativ für das Fernsehjahr 2020 – rund 450 Stunden Material aus der Pre-Primetime und der Primetime von acht Hauptsendern des deutschen Fernsehens gesichtet (Das Erste, ZDF, RTL, RTL2, Vox, ProSieben, SAT1 und Kabel Eins). Insgesamt waren es 545 Sendungen, bei denen die
drei Programmsparten Fiktion (35 Prozent), Information (36 Prozent) und Unterhaltung (29 Prozent) zu einigermaßen gleichen Anteilen vertreten waren.

Rund ein Drittel (34 Prozent) dieser Sendungen zeigten geschlechtsspezifische Gewalt. Darstellungen und Erzählungen teils expliziter und schwerer Gewalt gebe es vor allem gegen Frauen und Kinder. Insgesamt waren es 290 unterschiedliche Gewalthandlungen, die 390 unterschiedliche Tatbestände umfassen, so die Studie.

Erfahrungen der Betroffenen nicht nachvollziehbar

Die Perspektive der Opfer werde in den von ihnen untersuchten Sendungen nur unzureichend sichtbar, bilanziert Christine Linke. Lediglich in acht Prozent der Fälle seien die von der Gewalt Betroffenen so zu Wort gekommen, dass ihre Perspektiven und Erfahrungen für die Zuschauenden wirklich nachvollziehbar geworden seien.

"Das Überraschendste und vielleicht auch Erschreckendste ist, dass die Perspektive von Betroffenen und Opfern nicht adäquat abgebildet wird."
Christine Linke, Hochschule Wismar

Nur selten zeigten die Sendungen einen wirklich sensiblen Umgang mit der komplexen Thematik. Möglichkeiten der Prävention und Hilfsangebote würden zum Beispiel kaum sichtbar und fänden nur vereinzelt statt, sagt Christine Lehnen. Dabei gebe es in Deutschland eine Struktur von engagierten Menschen, von Profis in der Anti-Gewalt-Arbeit. Das bilde sich im Fernsehen aber weder in der Information noch in der Fiktion ab.

Hilfsangebote kaum sichtbar

Gerade in Info-Formaten würden sich gute Lösungen durchaus finden lassen – etwa mit dezenten Einblendungen. Sinnvoll wäre grundsätzlich eine Debatte und eine Reflexion zum Thema, findet Christine Linke. Medienschaffende müssten hier von Fall zu Fall Wege finden. Bei Videospielen oder im Streaming-Bereich werde das bereits praktiziert.

"Möglichkeiten der Prävention und Hilfsangebote werden kaum sichtbar. Was wir brauchen, ist eine Debatte und eine Reflexion."
Christine Linke, Hochschule Wismar

Als Positivbeispiel – und das sogar aus dem Bereich Fiktion – nennt die Studienleiterin das ZDF-Format "Lena Lorenz", in der eine Hebamme die Protagonistin ist. Der Serie gelinge es gut, eine Situation häuslicher Gewalt nachzuzeichnen und gleichzeitig – über das Agieren der Protagonistin – zu zeigen, wie Hilfestellungen gegeben werden können, ohne über die Betroffenen hinweg zu entscheiden.