Jung, belastet, unsichtbarWas brauchen pflegende Angehörige?
Lea, 28 hat sich jahrelang um ihren Bruder gekümmert, der eine Behinderung hat. Das war trotz Liebe ein harter Job. Viele junge Leute, oft sogar Kinder sind in die Pflege eingebunden. Daher fordert Lea mehr Unterstützung für alle, die schon jung zuhause pflegen.
Kinder, Jugendliche oder Zwanzigjährige, die Angehörige pflegen, sind in Deutschland kaum sichtbar. Dabei betrifft es mehr Menschen, als viele denken – Schätzungen gehen von rund 10 Prozent aus. Eine von ihnen ist Lea Dreissen. Während der Coronapandemie hat sie ihren schwerstbehinderten Bruder gemeinsam mit ihrer Mutter rund um die Uhr betreut. Damals seien jegliche Unterstützungsangebote von jetzt auf gleich weggefallen.
Als Kind Pflege, Krankheit und Tod kennenlernen
Tatsächlich kennt Lea kein Leben ohne Pflege. Schon als kleines Kind hat sie ihre Eltern immer wieder bei der Pflege ihres älteren Bruders unterstützt. "Ich habe ihn abends ins Bett gebracht, mitgewickelt und Medikamente verabreicht", erzählt sie. Das sei nicht immer der Fall gewesen, aber eben dann, wenn eine Lücke in der Pflege entstanden war.
Lea erinnert sich auch an zahllose Krankenhausaufenthalte. Wenn ihr Bruder operiert wurde, bangte die Familie nicht selten um sein Leben. Lea hat dann versucht, ihre Familie aufzuheitern und zu trösten. Sie habe im Kinderkrankenhaus auch mitbekommen, dass Kinder sterben. Die Erfahrungen und Eindrücke haben Lea sichtlich geprägt. "Bis heute", sagt Lea, "sind Krankenhausaufenthalte für mich nicht unbedingt einfach."
Ihre Eltern sind für sie da gewesen, sagt Lea, und haben sie ermutigt, einem Hobby nachzugehen oder Freunde übers Wochenende zu besuchen, um mal rauszukommen. Doch in den Krankenhäusern, erinnert sich Lea, fühlte sie sich komplett übersehen.
"Ich kann mich erinnern, dass die Ärzte oder Ärztinnen mich nicht mal angeschaut oder gefragt haben: 'Hey, wie geht es dir eigentlich damit?' Dieses Übersehenwerden macht schon was mit einem."
Menschen, die pflegen, sind in unserer Gesellschaft unsichtbar. Das formuliert auch Moritz Heß so, Professor für Gerontologie am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. Noch gravierender sei es bei jungen Menschen, die pflegen. Es gibt nicht einmal genaue Zahlen, wie viele es betrifft. Moritz Heß schätzt, dass es rund 10 Prozent sind. Bei Schülerinnen und Schülern geht man von rund 6 Prozent aus, so Heß. Das bedeutet: In einer Klasse mit zwanzig Schüler*innen pflegt im Schnitt eine Person.
"Es kommen immer wieder Studierende zu mir, die sagen: Ich habe mich nicht getraut, mit Lehrenden und mit Kommilitoninnen über die Pflege zu sprechen."
Pflege ist ohnehin ein tabuisiertes Thema, sagt Moritz Heß. Es steht in Verbindung mit Tod und Krankheit. Bei jungen Menschen, so Heß, ist es noch stärker tabuisiert. Er spricht im Rahmen seiner Forschung mit Studierenden, die Angehörige betreuen. Seine bisherigen Erkenntnisse: Studierende, die pflegen, haben eine niedrigere Lebenszufriedenheit. Sie sind größerem Stress ausgesetzt und ihre Gesundheit leidet darunter. Heß betont aber auch, dass Pflege nicht nur negative Effekte hat.
"Pflege kann auch die Resilienz und das Organisationsvermögen stärken und zu einer besseren intergenerationalen Beziehung führen."
Insgesamt, sagt der Forscher, braucht es in Deutschland noch viele Anlaufstellen, Strukturen und Hilfsangebote für junge Menschen, die pflegen, wie zum Beispiel:
- Aufmerksamkeit für die Betroffenen
- größeres Bewusstsein bei Lehrer*innen und Professor*innen, dass in ihren Gruppen ein bis zwei Schüler*innen oder Studierende pflegen
- mehr Flexibilität bei Deadlines und Härtefallregelungen
- einen höheren Bafög-Satz
Als Lea zu Pandemiezeiten Vollzeit gepflegt hat, gab es viele der heutigen Möglichkeiten und Unterstützungen, wie Selbsthilfegruppen oder offizielle Anlaufstellen an der Uni, noch nicht. Dabei stand auch noch die Abgabe ihrer Bachelorarbeit an. "Egal, wo ich damals hingeguckt habe, überall war nur Druck und das Gefühl, wirklich alleine zu sein", erinnert sie sich.
Leas Appell: "Sich selbst nicht vergessen"
Inzwischen pflegt Lea ihren Bruder nicht mehr täglich, springt aber immer wieder ein, wenn ihre Eltern Unterstützung brauchen. Außerdem hat sie gemeinsam mit einem Kollegen die Initiative "In zwei Welten" gegründet. Hier finden junge Menschen, die pflegen, Hilfsangebote, wie beispielsweise Beraung und Workshops. Lea sagt, auch in Bezug auf ihre eigene Geschichte: "Es ist wichtig, zu lernen, dass man auch als pflegende Angehörige sein eigenes Leben haben und seinen eigenen Weg gehen kann."