Das perfekte Buch für den Moment ……wenn du die Schuld wieder nur bei dir selbst suchst
Jella, Yannick und seine Gewalt: In "Die schönste Version" erzählt Ruth-Maria Thomas von einer frühen Beziehung, die nach einem alten Muster abläuft. Zu welcher Zeit? Patriarchat und nicht lange her. Und an welchem Ort? In der Lausitz.
Es ist Tag drei zu Hause bei ihrem Papa in ihrem ehemaligen Kinderzimmer. Tag drei ohne Yannick, und ohne auf seine Anrufe zu reagieren. Tag drei ohne ihre Freundinnen Linh und Anna einzuweihen, obwohl die beiden echt lieb und ehrlich besorgt immer wieder mal im Girlsgang-Chat nachfragen, wo sie denn sei, ob sie was tun können. Tag drei, nachdem Jella bei der Polizei gewesen ist und Yannick angezeigt hat. Tag drei, an dem sie bereits alles bereut.
Jella hat so fettige Haare, dass sie ihren Abdruck auf dem Kissen sehen kann; eine neue Stufe der Verwahrlosung, geil. Ihr Blick fällt auf das Notizbuch auf dem Schreibtisch: Zwei Punkte ihrer jämmerlichen Drei-Punkte-Liste sind noch offen. Sie ist von zweitens – Leben auf die Reihe bekommen – und drittens – Yannick? – noch meilenweit entfernt. Außerdem ist die Liste viel zu kurz. Da muss noch mehr kommen. Aber Jella hat gerade keinen richtigen Plan. Wie auch?
Make-up als Erleichterung
Sie rafft sich auf, geht in das kleine, fensterlose Bad und putzt sich. Mit Rasieren, Einkremen und Haaröl-in-die-Spitzen-kneten. Mit Make-up, Lipgloss und Rouge.
Ihr Papa wirkt erleichtert, als sie so in die Küche kommt. Aber dann legt er die Stirn in Falten und stellt diese typische Papa-Frage. "Wo gehst du hin?" Jella weiß, warum. "Du triffst dich jetzt aber nicht mit ihm, oder?", "Nein, Papa. Ich treffe mich nicht mit ihm."
"Der Roman 'Die schönste Version' von Ruth-Maria Thomas macht Gänsehaut. Nicht nur einmal, sondern gefühlt ständig."
Mal ist es die intime Nähe zwischen den Schulfreundinnen Jella und Shelly, noch keine sechzehn, aber sowas von bereit fürs Erwachsensein, die sich Tangas im Doppelpack kaufen und gegenseitig die Muschis rasieren, weil Jungs darauf stehen.
Mal ist es der Moment, in dem Jella nach ihrem ersten Sex den Beweis in ihr Tagebuch klebt: ein mit Sperma besudeltes Taschentuch. Das erste Mal war zwar nicht so, wie es die Jugendzeitschriften prophezeit haben, aber egal: Hauptsache kein Kind mehr.
Der Freund als Vormund
Gänsehaut stellt sich auch ein, als Yannick sie schon beim ersten Date bevormundet, oder die Dinge so sagt, dass Jella es sich verkneift, was dagegen zu sagen, weil Yannick irgendwie auch sehr toll ist – umsichtig, charmant und lieb. Dass sie Gin Tonic lieber mit Gurke trinkt, weil sie allergisch auf gespritzte Zitronen reagiert, behält sie ebenso für sich, wie, dass ihr Lieblingsessen Knoblauchdöner nur mit Fleisch ist. Aber Yannick bestellt Zitrone und isst kein Fleisch. Also für Jella ab jetzt immer mit Zitrone und ohne Fleisch. Schade, ja, aber das ist doch Liebe, oder?
Und als Yannick sie schon bald darauf fragt, ob sie zusammenziehen wollen, sagt sie nicht Nein. Obwohl sie sich die neue Wohnung eigentlich nicht leisten kann und ihre Studi-Bude sehr gemütlich findet. Sie kann Yannick diesen Wunsch nicht abschlagen. Wie sie ihm überhaupt vieles nicht abschlagen kann. Manchmal hat sie regelrecht Angst vor ihm und vor seinen Reaktionen auf das, was sie will, tut oder sagt.
Hätte sie es da schon ahnen können? Oder müssen? Kompromisse gehören doch dazu. Und Konflikte genauso. Und hat sie ihn nicht auch manchmal provoziert? Jella fasst sich an den Hals, dahin, wo Yannick sie gepackt und gewürgt hat, bis sie keine Luft mehr bekam. Jella weiß, dass das Gewalt ist, dass es dafür keine Entschuldigung gibt. Aber warum fühlt sie sich trotzdem schuldig?
Das Buch
"Die schönste Version" von Ruth-Maria Thomas, Rowohlt, 270 Seiten, Hardcover: 24 Euro, Taschenbuch: 14 Euro, eBook: 9,99 Euro, das Hörbuch gelesen von Lili Zahavi dauert gut sechs Stunden. Erschienen im Juli 2024.
Die Autorin
Ruth-Maria Thomas, 1993 geboren und in Cottbus aufgewachsen, war als Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe tätig. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist Mitgründerin des erotischen Literaturmagazins Hot Topic!.
In ihren Texten, die unter anderem im Rundfunk und in Literaturmagazinen erscheinen, beschäftigt sie sich auch mit den Fallstricken weiblicher Sozialisation. Zuletzt erschien ihre Kurzgeschichte "Glitzer" und "Wie ich frau bin".
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