Flucht in die FantasieweltMaladaptives Tagträumen: Wenn Träumen zur Sucht wird

Manchmal sitzt Lena einfach nur stundenlang da und starrt ins Nichts. Manchmal redet sie dabei mit sich selbst, lacht oder weint. Lena leidet unter maladaptiven Tagträumen. Lange Zeit bestimmten sie ihr Leben.

Seit ihrer Kindheit leidet Lena unter maladaptiven Tagträumen, was bedeutet, dass sie süchtig danach ist, tagsüber in ihre Fantasiewelten zu flüchten und dabei den Alltag zu vergessen. Das ging vor allem früher so weit, dass sie ihr echtes Leben nicht mehr auf die Reihe bekam. Mittlerweile hat Lena ihre Tagträume besser im Griff.

Das Phänomen des maladaptiven Tagträumens ist bisher nur wenig erforscht worden und selten können Betroffene so offen darüber reden wie die 23-jährige Wienerin Lena Anderl.

Lena merkt, auch andere leiden unter Tagträumen

Eigentlich hat Lena einen Youtube-Kanal, in dem sie über ihre Essstörungen redet. Als sie eher nebenbei ein Video über ihre Tagträume veröffentlichte, war das Feedback in den Kommentarspalten groß. Viele waren erleichtert, nicht alleine mit diesem Problem zu sein. Auch Lena wurde bewusst, dass sie nicht die Einzige ist und sich nicht dafür schämen brauche.

"Bevor ich herausgefunden habe, dass es einen Namen hat, dass das nichts ist, was exklusiv ich habe, da war es mir einfach peinlich. Weil ich gedacht habe: Du bist erwachsen und lebst immer noch so halb in einer Fantasiewelt."
Lena Anderl, Betroffene von maladaptiven Tagträumen

Komplexe Fantasiewelten

Als Lena noch jung war, tauchte sie manchmal bis zu sieben Stunden in ihre Fantasiewelten ab. Über die Jahre sind in ihrem Kopf immer mehr und komplexere Welten entstanden mit ganz unterschiedlichen Figuren, sagt sie. Manchmal sind die Welten sehr fantasiereich, manchmal kommen reale Bekannte darin vor, das sei ganz unterschiedlich, erzählt Lena.

"Es sind manchmal sehr fantastische Geschichten, manchmal kommen auch Leute aus meiner Umgebung darin vor, es ist ganz unterschiedlich."
Lena Anderl, Betroffene von maladaptiven Tagträumen

Die Tagträume so richtig zu beschreiben, falle ihr schwer. Vor allem, weil sie etwas sehr Persönliches sind. Etwas, das nur ihr gehöre.

Austausch in Foren

In Internetforen tauschen sich viele Betroffene über ihre Tagträume aus. Manche haben darin Superkräfte, sind berühmt oder träumen von der heilen Familie, die sie im realen Leben womöglich nie hatten. Andere haben überwiegend erotische Tagträume. Viele werden von Autofahrten, Musik oder beim Joggen getriggert. Lena rutscht vor allem in ihre Fantasiewelten ab, wenn ihr langweilig ist oder wenn sie gestresst ist.

Flucht vor emotionalem Schmerz

Ungefähr eine von hundert Personen leidet unter maladaptiven Tagträumen, schätzt Eli Somer, ehemaliger Psychologieprofessor der Universität Haifa. Als er vor zwanzig Jahren angefangen hatte, an diesem Thema zu forschen, war er einer der ersten. Bis heute gebe es noch viele offene Fragen.

Klar sei für ihn: Einige haben die Fähigkeit, sich eine Innenwelt zu schaffen, die sich real anfühle. Nur wenige davon würden wirklich süchtig danach werden. Besonders anfällig seien dafür diejenigen, die unter emotionalen Schmerzen litten. In ihren Tagträumen könnten sie vor ihrem Schmerz und ihren traumatischen Erinnerungen flüchten, erklärt Eli Somer.

"Those, who suffer emotionally, would benefit most to distract from their emotional pain or – for example – distract from painful traumatic memories."
Eli Somer, ehemaliger Psychologieprofessor der Universität Haifa

Für Eli Somer geht maladaptives Tagträumen in Richtung verhaltensabhängiger Sucht, ähnlich wie beim Shoppen oder Glücksspiel. Problematisch wird das Tagträumen, wenn die Betroffenen ihr Leben nicht mehr im Griff haben, wichtige Termine verpassen oder lieber Zuhause bleiben als die Dinge zu tun, die ihnen wirklich guttun würden. Viele könnten durch ihre Tagträume sogar schlechter schlafen.

Hilfe durch Psychotherapie und Achtsamkeit

Um das maladaptive Tagträumen in den Griff zu bekommen, kann zum einen die Psychotherapie helfen. Dort kann geklärt werden, wovor die Betroffenen flüchten. Außerdem sollten die Betroffenen Dinge unternehmen, bei denen es sich schlecht Tagträumen lässt. Eli Somer rät: Freunde treffen oder zumindest mit ihnen telefonieren.

"Surround yourself with people. Pick up the phone, call a friend. These are examples, people can do to prevent themselves to drifting away into their fantasy world."
Eli Somer, ehemaliger Psychologieprofessor der Universität Haifa

Tagträume sind machtvoll. Sie saugen die Betroffenen regelrecht ein, sagt der Wissenschaftler Eli Somer. Deswegen können auch Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder das Fokussieren auf den eigenen Atem helfen.

Lena benutzte beispielsweise Duftöle oder Tigerbalsam, auch Igelbälle würden helfen, sich selbst wieder besser zu spüren, sagt sie. Ihr absolutes Geheimmittel: Saure Bonbons wie Centershocks.

"Ich benutze zum Beispiel Duftöle, Tigerbalsam zum dran Schnuppern, das ist ja sehr scharf im Geruch, Igelbälle helfen auch. Mein Skill für so ziemlich alles sind Centershocks, saure Bonbons. Alles, wo ich mich sehr spüre, hilft auf jeden Fall."
Lena Anderl, Betroffene von maladaptiven Tagträumen

Tagträume als Ideenquelle

Für Lena sind ihre Tagträume mittlerweile nicht mehr nur eine schlechte Angewohnheit, sondern auch eine Inspirationsquelle für ihren Youtube-Kanal. Viele Ideen habe sie aus ihren Tagträumen. Sie müsse nur aufpassen, dass diese Quelle nicht alles andere überflute.

"Ich habe das Gefühl, es ist schon eine Quelle der Kreativität, ich muss nur zusehen, dass die Quelle nicht übergeht und alles flutet."
Lena Anderl, Betroffene von maladaptiven Tagträumen

Zwei Stunden pro Tag träumt Lena im Schnitt heute noch. Das finde sie ganz in Ordnung. Die Tagträume in den Griff zu bekommen, kann also funktionieren.