Sorry, kann doch nichtWenn wir es mit der Me-Time übertreiben
Isabel sagt manchmal kurzfristig Treffen ab, wenn sie Zeit für sich braucht. Warum das in ihrer Generation akzeptierter ist als in älteren, erklären eine Soziologin und ein Generationenforscher.
Termine abzusagen für mehr Me-Time – das passiert. Nur wann ist Absagen voll okay und wann übertreiben wir es mit der Selbstfürsorge und vernachlässigen dafür unsere Freundschaften? Und: Sind wir als Gesellschaft unverbindlicher geworden?
Isabel ist Sozialarbeiterin in einer Wohngruppe mit Jugendlichen. Da kann es schon mal passieren, dass sie kurzfristig länger arbeiten muss. Letztens etwa musste sie mit einer Jugendlichen spontan ins Krankenhaus. Danach hätte sie es zeitlich eigentlich noch zum Treffen mit der Freundin geschafft, aber als sie im Auto saß, merkte sie: "Nee, heute lieber nicht mehr."
"Manchmal stehe ich die ganze Zeit unter Stress und erst in dem Moment, wo ich runterfahre, merke ich, dass ich keine Kapazitäten mehr habe, noch ein nettes Gespräch zu führen."
Isabel hat zuerst in einer WG gewohnt. Immer umgeben von anderen Menschen. Als sie dann vor sechs Jahren das erste Mal alleine in eine Wohnung gezogen ist, war das für sie ein komisches Gefühl. "Ich hatte da echt Schiss vor, weil ich nicht so gut alleine sein konnte. Und dann habe ich aber gemerkt, dass es richtig cool sein kann, alleine zu sein und habe das richtig schätzen gelernt", sagt sie.
"Ich habe dann gemerkt, dass ich früher oft Verabredungen wahrgenommen habe, einfach nur, weil ich nicht alleine sein wollte oder weil ich niemanden enttäuschen wollte."
Sie sagt, nach und nach habe sie es dann gelernt, alleine zu sein. Und dass es wichtig ist, auch die eigenen Grenzen zu respektieren. So sagt Isabel heute: "Die Zeit mit mir selbst schätze ich auch total, also kann ich die auch irgendwo priorisieren und wäge dann immer ab, was mir gerade mehr gibt."
Warum Absagen einfach(er) ist
Alleine ist Isabel mit dieser Strategie nicht – das lässt sich auch in den Sozialen Medien lesen, wo Me-Time oft ein Thema ist.
Die Soziologin Julia Hahmann sagt, spontane Absagen von Treffen gab es schon immer. Aber auch sie nehme wahr, dass es eine erhöhte Anerkennung dafür gibt, wenn jemand Zeit für sich braucht. "Die Idee, dass das eine relevante Ressource ist zur Erholung und dass Menschen die vielleicht auch in unterschiedlichem Maße brauchen – das ist auf jeden Fall eine Wendung, die hat ein bisschen was mit Corona zu tun. Und das ist aber auch so eine Art popkulturelle Wende. Also zu sagen, ich habe Sozialstress oder ich brauche den Rückzug."
Julia Hahmann sagt, dass das auch Auswirkungen auf die Freundschaften haben kann. Das hänge aber vor allem davon ab, ob die andere Person die Me-Time als Absagegrund akzeptiert. "Meine Wahrnehmung wäre, dass das für jüngere Altersgruppen mittlerweile zumindest nicht unüblich ist, das so zu machen. Ich bin über 40, da ist es eher ungewöhnlich zu sagen, ich brauche Me-Time."
"Früher ist gar nicht so viel passiert und da gab es auch nicht so viele Optionen. Da ist man dann am Freitagabend in den Club gegange. Und da gab es eben nur diesen einen."
Der Psychologe und Generationenforscher Rüdiger Maas hat eine Erklärung dafür, warum gerade jüngere Menschen unverbindlicher geworden sind. Er sagt, es liege an den viele Optionen, die wir heute permanent haben.
"Die meisten jungen Menschen haben das Gefühl, vielleicht nicht die maximal beste Option wahrgenommen zu haben."
Zu unserem Wohlbefinden trage diese Optionenfülle allerdings nicht bei, so Rüdiger Maas: "Das macht eben viele junge Menschen einfach unglücklich, dieses permanente Aus-dem-Vollen-Schöpfen-Müssen und immer das Gefühl zu haben, nicht unbedingt immer das maximal Beste rausgeholt zu haben."
Früher waren Menschen nicht ständig erreichbar
Vor 20 oder 30 Jahren war Absagen auch noch nicht so einfach wie heute. Wir können schnell eine Nachricht schreiben und schon ist die Sache erledigt. Früher ging das nicht. "Wenn man sich da verabredet hat, musste man immer davon ausgehen – wenn jetzt zum Beispiel ein langer Amtsweg war –, dass die andere Person schon auf dem Weg ist und die kann ich gar nicht mehr erreichen. Das heißt, da war Verbindlichkeit ganz, ganz wichtig. Von dem her hatte man da einfach einen ganz anderen Bezug dazu, als es heute der Fall ist", so Rüdiger Maas.
Der Generationenforscher sagt, dass eine Absage, um mehr Zeit für sich zu haben, durchaus sinnvoll sein kann. Zum Beispiel, wenn wir total gereizt sind und schlechte Laune haben. Dann könnte sich diese toxische Stimmung auch auf andere übertragen. In dem Fall kann es also eher beziehungsfördernd sein, wenn wir alleine bleiben und uns abreagieren. Allerdings sagt er auch, dass solche Absagen kein Dauerzustand sein sollten.
Absagen ja – aber nicht ständig
Auch die Soziologin Julia Hahmann warnt davor, zu oft abzusagen. "Ich kann ja auch als Freundin denken, ich habe mir jetzt hier drei Wochen diesen Termin freigehalten. Auch das ist ja das Einfordern der Anerkennung der eigenen Grenzen – aber auch das Überschreiten anderer Leute's Grenzen potenziell", sagt die Soziologin.
"Man muss das schon im Blick behalten, das nicht als dauerhafte Strategie zu verwenden."
Diese Abwägung zwischen den eigenen Grenzen und denen der anderen, fließt auch bei Isabel immer in die Entscheidung mit ein, ob sie jetzt absagt oder nicht. Eine Verabredung mit einer Freundin etwa, die auf Heimatbesuch ist und die sie so schnell nicht wiedersehen wird, würde sie nicht so einfach canceln. Und auch wenn sie weiß, dass die andere Person ein dringendes Gesprächsbedürfnis hat, wiegt das Treffen für sie mehr als eine lose Verabredung zum Essen, die sich problemlos verschieben lässt.
Isabel findet es übrigens auch nicht problematisch, wenn ihr jemand spontan absagt. Sie denkt dann: "Boah geil, ich hatte jetzt drei, vier Stunden oder einen ganzen Tag verplant und jetzt habe ich einen Tag, an dem ich keine Pläne habe."