WissenschaftsphilosophieIn wie vielen Wirklichkeiten leben wir?
Forschende entdecken Tatsachen über die Welt? Nein, das ist viel zu einfach gedacht. Wissenschaften schaffen eine Vielfalt von Wirklichkeiten. Ein Vortrag des Wissenschaftshistorikers Cornelius Borck.
Die Wissenschaften sind vielfältig. Es gibt verschiedene Fachrichtungen, unterschiedliche Methoden und Blickwinkel.
So unterschiedlich können die Sichtweisen sein, dass es mitunter zum Beispiel für einen Mikrobiologen nicht einfach ist, sich mit einem Mediziner zu verständigen. Sogar dann nicht, wenn sie im selben Team arbeiten.
"Wir können nicht mehr von einer Wirklichkeit reden. Wir haben vielmehr eine Vielfalt der Wirklichkeiten."
Vielfalt in der Wissenschaft ist produktiv und fördert den Betrieb. Aber kann es so etwas wie zu viel Vielfalt in der Wissenschaft geben?
Das ist eine der Fragen, in die es im Vortrag von Cornelius Borck geht. Er ist Wissenschaftshistoriker und Medizinphilosoph an der Universität zu Lübeck.
Es gibt keine Einheit der Wirklichkeit
Man könnte vielleicht annehmen, in der wissenschaftlichen Forschung gehe es darum, die eine Wahrheit zu entdecken und herauszufinden, wie die Welt "wirklich" ist. Doch diese Vorstellung ist naiv, argumentiert Cornelius Borck.
Spätestens seit der Quantenphysik und der Relativitätstheorie sei deutlich geworden, dass wir nicht von der einen Wirklichkeit sprechen können.
"Ludwik Fleck weist darauf hin, dass Fakten gemacht sind, nicht entdeckt."
Der Mikrobiologe und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck veröffentlichte 1929 einen Artikel in der Zeitschrift "Die Naturwissenschaften" mit dem Titel "Zur Krise der 'Wirklichkeit'".
In diesem Artikel sowie in anderen Veröffentlichungen habe Fleck viele Erkenntnisse der späteren Wissenschaftsphilosophie vorweggenommen, sagt Borck in seinem Vortrag. Heute ist Fleck kaum noch bekannt. Aber er hatte recht, argumentiert Borck: In einem substanziellen, ontologischen Sinn gibt es eine Vielfalt von Wirklichkeiten, so der Wissenschaftshistoriker.
Cornelius Borck ist Professor am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Sein Vortrag hat den Titel Vielfalt – Produktivkraft oder Krisensymptom von Wissenschaft?. Er hielt ihn am 22. Mai 2025 in Hamburg im Rahmen der Akademievorlesung 2025 zum Thema "Vielfalt" der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.