PalliativmedizinSandras Vater soll zuhause sterben

Als ihr Vater schwer krank ist, begegnet Einhundert-Autorin Sandra Doedter Herrn Kruse. In einer existenziellen Situation hilft Herr Kruse ihr und ihrer Familie. Er konnte ihrem Vater und ihr selbst viel Angst nehmen - und dafür ist sie ihm bis heute dankbar.

Als ich zum ersten Mal mit Frank Kruse gesprochen habe, da fiel mir eine riesige Last von der Seele. Ich hatte schon einen Haufen Telefonate hinter mir, hatte mich von einer Stelle zur nächsten gehangelt und war danach meistens nicht viel schlauer. Alle anderen, die ich bis dahin angerufen hatte, hatten sowas gesagt wie: "Nein, wir sind nicht zuständig", oder: "Tut uns leid, aber das machen wir nur noch bei Leuten, die wir seit Jahren kennen." Frank Kruse aber, der meinte einfach nur: "Geben Sie Bescheid, wenn es so weit ist. Ich mach das. Das kriegen wir hin." Echt ein cooler Typ.

Ich hab erstmal geheult, vor Erleichterung: Die erste gute Nachricht seit Wochen. 

"Endlich hatte ich jemanden gefunden, der bereit war, meinem Vater beim Sterben zu helfen."
Sandra Doedter über ihr Suche nach einem Palliativarzt

Zu dem Zeitpunkt war klar, mein Vater würde nicht mehr lange leben. Er war 84 Jahre alt, und er war krank, seit vielen Jahren immer wieder. Seit knapp zwei Monaten konnte er das Bett nicht mehr verlassen und war auf Pflege angewiesen. Es war ein Hin und Her zwischen zu Hause und Krankenhaus. An einem Morgen im Januar, da war er gerade ein paar Tage wieder zu Hause, da hat er zu meiner Mutter gesagt: "Ich will nicht mehr leben." Die einzige Perspektive, die er da noch sah, war, es irgendwann nochmal im Rollstuhl bis ins Wohnzimmer zu schaffen. Und so wollte er eben nicht mehr.

Dann kam der Schock

Ehrlich gesagt: Ich habe nicht damit gerechnet, dass das so ein Schock ist für mich. Für uns alle. Weil wir ihn ja eigentlich verstehen konnten. Zumindest wir drei Schwestern. Meine Mutter konnte es damals noch nicht akzeptieren. 

"Dieser Satz: 'Ich will sterben'. Der war echt heftig."
Sandra Doedter

Dann bekam er eine schwere Lungenentzündung und mit der kam er wieder ins Krankenhaus. Ob das nun sein Geist war oder sein Körper, keine Ahnung. Jedenfalls hat er sich dort halbwegs die Seele aus seinem schwachen Leib gehustet, von den starken Medikamenten bekam er Halluzinationen und er erklärte uns, dass in der Nacht die Lastwagen da waren und alle abgeholt haben.

Unser Vater brauchte Hilfe - und wir auch

Da wurde uns klar, welche Quälerei zum Sterben dazu gehören kann. Und da verabredet war, dass mein Vater wenn irgend möglich zu Hause sterben kann, wussten wir: Er braucht Hilfe dabei. Und wir brauchen die auch. Jemand, der uns sagt, wie wir unserem Vater helfen können. Und so kam Frank Kruse ins Spiel.

Das Haus meiner Eltern steht in einer Bungalow-Siedlung aus den 60ern, in einem mittelgroßen Ort am Niederrhein. Der Reihenhaus-Klassiker: Das Gästeklo neben der Haustür, das Wohnzimmer relativ groß, der Garten auch. Dafür sind alle anderen Zimmer ziemlich klein, und alles ist sehr eng beieinander. In diesem Haus hatten wir eine echt glückliche Kindheit, meine beiden großen Schwestern und ich. 

Und hierher kam mein Vater zurück, nachdem die Ärzte im Krankenhaus gesagt hatten, er sei jetzt zumindest transportfähig. Es war ein Morgen Ende Februar. Der Karnevalsdienstag.

"Das war der Moment, als wir bei Frank Kruse anriefen und das Zeichen gaben: Jetzt ist es so weit."
Sandra Doedter

Ich war überrascht, als ich auf dem Tischchen am Pflegebett ein Messing-Kreuz liegen sah. Ich hab es in die Hand genommen, und ich hab meinen Vater angelacht, wie ich es sonst auch getan hätte, und hab ihn fast ein bisschen spöttisch gefragt: "Na, Papi, wie ist es denn dazu gekommen?"

Zu der Zeit konnten wir kaum noch verstehen, was er sagt, er konnte die Worte einfach nicht mehr richtig formen... Aber irgendwie hat er es doch geschafft, es mir zu erzählen: dass ihm das Kreuz über der Zimmertür im Krankenhaus gefallen hatte, und dass er es den Krankenschwestern kurz vor seiner Abfahrt mit dem Krankentransport abgeschwatzt hatte. Eigentlich hätte er zehn Euro dafür zahlen müssen. Bargeld hatte er aber gar nicht mehr da.

Ein Kreuz als Trost

Mein Vater - der größte und ungläubigste Atheist vor dem Herrn, und noch dazu ein überkorrekter Mensch, der eine Parkuhr nicht mal eine Minute überziehen konnte – der hatte jetzt Schulden gemacht, um an ein christliches Kreuz zu kommen?! Früher hätten wir zusammen darüber gelacht, wie absurd das eigentlich ist. Aber jetzt kam es mir gar nicht mehr absurd vor. Vielleicht wollte mein Vater nur sichergehen, alles richtig zu machen, und nicht mit leeren Händen da oben an der Himmelspforte zu stehen. Vielleicht hat ihn das Kreuz einfach nur getröstet. Hoffentlich.

Dann haben wir die Zeit mit Warten verbracht. Auf Dr. Kruse. Er hat eine Hausarztpraxis in meinem Heimat- Kaff, und außerdem eine Ausbildung in Palliativmedizin. Mein Vater wusste nicht mehr als: Es kommt jetzt ein anderer als sein langjähriger Hausarzt, der wollte ihn nämlich nicht begleiten. Mehr hatten wir nicht geschafft, ihm zu erklären. Wir hatten es nicht über’s Herz gebracht.

Gegen sieben Uhr abends hat es dann endlich geklingelt. 

Dann kommt Frank Kruse

Sandra: "Kannst du dich erinnern, wie es war, als du den Kruse zum ersten Mal gesehen hast?" 

Mami: "Na ja, ich war natürlich sehr gespannt, wer kommt da zur Tür rein. Ich war ein bisschen erstaunt. Also jetzt kein feingliedriger, smarter Typ oder irgendwas. Das ist... Ein richtiger Kerl. Bei dem hatte man das Gefühl, der kann zupacken. Das Gefühl hatte ich bei ihm. Er war ja mein, mein Strohhalm, an den ich mich geklammert habe."

Sandra: "Hast du dem getraut?" 

Mami: "Also, zuerst... Das Vertrauen musste der erst mal gewinnen, meine ich. Er kam da so forsch rein, und sagte auch gleich: hier das und das und das, die Medikamente, zack zack zack, das dann, das dann, das dann... Und ich wusste ja gar nicht, dass so viele Medikamente vonnöten sind, um einen Menschen ins Sterben zu begleiten." 

Frank Kruse, der ist so Anfang, Mitte 50, kam in einer Wolke aus Zigarettenqualm zur Tür herein, so, als hätte er noch eben vor der Haustür eine Kippe ausgedrückt. Wir haben uns erstmal zu dritt an den runden Eichentisch im Wohn-Esszimmer gesetzt. Die Tür zum Flur Richtung Schlafzimmer haben wir zu gemacht. Wir wollten nicht, dass mein Vater hört, was wir besprechen. 

Sandra: "Für uns war es so... Wir wussten, Sie kommen irgendwann an dem Abend, dann kamen Sie, und ich hatte schon Medikamente besorgt. Dann haben sie uns die da hingestellt, tack, tack, tack, das ist gegen das, das ist gegen das. Meine Mutter kriegte solche Augen. Und sagte später, das hätte sie total überfordert." 

Kruse: "Das ist klar. Wir machen ja gerade aus dem Wohnzimmer eine Intensivstation."

Sandra: "Das heißt, Sie sind bei uns in das Wohnzimmer gekommen. So, und dann haben Sie dann entschieden, oder was haben sie wahrgenommen?" 

Kruse: "Und dann habe ich auch gedacht, jetzt sind Sie soweit, und ich bin davon ausgegangen, dass Sie auch Leute sind, die da reinwachsen werden. Aber ich musste Sie damit konfrontieren. Das geht leider nicht so, indem ich mich dann hinsetze und den ganz Empathischen dann spiele, das geht leider nicht." 

Bestimmt eine halbe Stunde haben wir da gesessen, meine Mutter und ich, und haben von Dr. Kruse alle Medikamente genau erklärt bekommen, ausführlich und vollständig, so heißt das bei Medizinern... Zum Schluss hat er uns noch einen Satz mit auf den Weg gegeben: Dass das jetzt hart werden würde für uns, aber dass wir später sagen würden, es war eine Bereicherung. 

Papas letztes Lächeln

Was genau er damit meinte, davon hatten wir zu diesem Zeitpunkt nicht die Spur einer Ahnung.

Sandra: "Na, dann sind wir halt in das Schlafzimmer gegangen, zu meinem Vater. Und was für mich total bewegend war und bis heute ist, dass Sie meinem Vater das letzte Lächeln in seinem Leben aufs Gesicht gezaubert haben. So in der Art, wie Sie auf ihn zugegangen sind." 

Kruse: "Jetzt krieg ich aber ne Gänsehaut, verstehen Sie." 

Sandra: "So war es. Da habe ich ihn noch mal strahlen sehen. Wie haben Sie das wahrgenommen?" 

Kruse: "Hört sich vielleicht blöd an, aber ich hab mich entschlossen den Menschen, in diesem Fall ihren Vater, zu begleiten. Das ist eine Aufgabe. Punkt, Ende, aus. Und die gibt es, seitdem es Menschen gibt... Und das ist auch die Energie. Und deshalb ... Er hat das gemerkt, und da hat er gelächelt. Und mir ist es wahrscheinlich genauso gegangen."

Die Medikamente standen weiter auf dem grünen Tablett im Esszimmer, wie eine Erinnerung an das, was noch alles kommen konnte: Ein Mittel gegen Übelkeit. Eins gegen Schmerzen. Eins fürs Herz. Eins gegen Atemnot. Tabletten gegen Angst. Und Tropfen gegen große Angst. "Scheuen Sie sich nicht, etwas gegen die Angst zu geben", hat uns Frank Kruse noch gesagt. "Trauen Sie sich." 

Und dann kam die Nacht

Mami: "Da war es aber auch noch nicht so... Dramatisch, oder?" 

Sandra: "Doch schon. Eigentlich schon, weil er aus dem Bett wollte. (Mami holt Atem) Er wollte ja immer aus dem Bett und Fahrrad fahren." 

Mami: "Ja, das stimmt, ja." 

Sandra: "Da war er sehr unruhig. Da haben wir auch gesagt, so ne Nacht, das schaffen wir wahrscheinlich nicht nochmal."

Mein Vater fühlte sich verfolgt und wollte aus dem Bett. War das Todesangst? Sterbende können sehr unruhig sein, hatte ich gelesen. Immer wieder mussten wir ihn festhalten, umbetten oder wieder hinlegen, stundenlang. Es blieb nichts anderes übrig, als abwechselnd an seinem Bett zu sitzen und auf ihn aufzupassen. 

Sein Atem ging sehr schleppend, manchmal waren die Pausen so lang, dass ich dachte, jetzt ist er tot. Er hat nach Dingen gegriffen, die nicht da waren. Und er hat gemurmelt, dass er nach Hause will. Zu Anfang hab ich ihn korrigiert und gesagt: "Du bist doch zu Hause, Papi."

Irgendwann hab ich es aber begriffen und  hab zu ihm gesagt: "Mach dir keine Sorgen, Papi. Wir bringen dich nach Hause." Dann hat er genickt, aber an der Art, wie er es tat, meinte ich zu erkennen: Verstanden hat er mich nicht. Aber in seinen Augen habe ich sowas wie Dankbarkeit gesehen. 

Wir hielten seine Hand

Ich saß da und hab einfach nur seine schöne, weiche Hand gehalten. Das war relativ neu, weil: Unser Verhältnis war nicht besonders innig. Also, wir hatten schon ein gutes Verhältnis. Mein Vater hat sich immer für mein Leben interessiert: was ich so mache – vor allem im Job. Und er war ein sehr großzügiger Mensch, irgendwie weltoffen. Wahrscheinlich hatte er das aus der Zeit, in der er als junger Mann in New York, in London und in Paris gelebt hat. Aber innig, das waren wir eben nicht miteinander. 

Zuerst hat er es, glaube ich, einfach so geschehen lassen, wenn ich seine Hand genommen habe. Aber als Stefanie, meine Freundin, ihn einmal gefragt hat: "Jochen, was hilft dir denn in dieser beschissenen Situation?", da sagte er wie aus der Pistole geschossen: "Wenn die Sandra meine Hand hält."

"Und irgendwann hat er verlangt, kaum dass ich an seinem Bett saß, oder meine Mutter, oder eine meiner Schwestern: 'Gib mir deine Pfote'."
Sandra Doedter

Und dann haben wir einfach eine Menge nachgeholt.

Plötzlich werden wir unsicher

Am nächsten Morgen, nach dieser sehr unruhigen Nacht, bin ich total gerädert zur Arbeit nach Köln gefahren. Irgendwie wollte ich so lange wie möglich so tun, als wäre alles normal. Was für ein Quatsch. 

Als ich abends wieder zurück zu meinen Eltern kam, war meine Schwester Katja auch da. Es sah nicht gut aus: Kruse hatte einen Ultraschall gemacht: Die Lunge meines Vaters war voller Wasser, er drohte zu ersticken. Kruse spritzte ihm ein Entwässerungs-Medikament, und dann ging es ihm erstmal besser. 

Und irgendwie, ich weiß auch nicht genau warum, sind wir da unsicher geworden.

Sandra: "Meine Mutter hatte auch so einen Moment, und am zweiten Abend sagte sie: Ich weiß nicht, ob das alles richtig ist." 

Kruse: "Klar, Zweifel gehören immer dazu." 

Sandra: "Dann haben wir uns auch gedacht, ja, wenn - wir kennen den doch gar nicht. Was ist, wenn das ein Scharlatan ist, und der hat einfach Spaß daran, dass die Leute sterben? So – ausgedacht..."

Kruse: "Da muss ich mit leben. Aber da sind wir darauf vorbereitet klar."

Mit diesen Zweifeln, ob das alles so richtig ist, sind meine Mutter und ich in die nächste Nacht gegangen. 

Mein Vater war wieder sehr unruhig. Immer wieder drückte ihn irgendwas und er wollte anders liegen. Meiner Mutter war die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, nach all diesen Monaten und nach der letzten Nacht. Und trotzdem: sie war unfassbar geduldig mit meinem Vater, und so liebevoll – das hat mich richtig umgehauen. Er hat so undeutlich gesprochen, dass wir meistens nicht wussten, was er uns sagen will. Wie bei einem Baby, bei dem du auch nur erahnen kannst, was ihm fehlt. Und wo sich das, was man tun kann, auch auf ein paar Grundbedürfnisse beschränkt: Hast du Durst? Tut dir was weh? Ist dir zu warm? Ist dir zu kalt? 

"Längst war mein Vater auf dem Weg in eine andere Welt."
Sandra Doedter

Wir konnten ihn nicht verstehen, aber wir haben verstanden, dass er Angst hat. Und da haben meine Mutter und ich uns dann entschieden. Erst haben wir ihm eine Tavor-Tablette in den Mund gelegt. So eine, die man nicht schlucken muss, sondern eine, die sich von selbst auflöst. Denn schlucken konnte mein Vater nicht mehr. Mein Vater aber hat sich weiter verfolgt gefühlt. Er hat gestöhnt und mit den Händen herum gefuchtelt. Da haben wir ihm noch eine halbe Tablette hinterher gegeben. 

Die Angst ging trotzdem nicht weg. 

Wir wussten: Wir müssen etwas tun

Wären wir in einem Krankenhaus gewesen, hätten wir spätestens in diesem Moment die Klingel gedrückt. Wir hätten die Nachtschwester gerufen, und dann hätten wir um das Bett herum gestanden – bei Neonlicht. Und wir hätten die Schwester angeguckt und hätten sie gefragt: Was hat er? Was muss man jetzt tun? Oder wir hätten verlangt: Tun Sie was. Aber wir waren allein mit unseren Fragen. Wir haben zu zweit da gestanden, mitten in der Nacht, im Schlafzimmer eines Reihenhauses irgendwo am Niederrhein. Die Leute in den Häusern um uns herum haben vermutlich alle friedlich geschlafen.

Wir wussten, dass wir jetzt was tun müssen. Und dann haben wir uns getraut. Wir haben die Tropfen geholt und sie meinem Vater eingeflößt, 20 Stück. Alle zwei Stunden. Genauso, wie es uns Dr. Kruse gesagt hatte. Und genauso haben wir es auch dokumentiert.

Mir war da nicht so klar, wie es mir heute ist: Wir nehmen meinem Vater jetzt zwar die Angst, aber wir nehmen ihm auch das Bewusstsein. Komplett. Denn von da an war er für uns nicht mehr erreichbar. Von da an hat er nicht mehr gesprochen, und er hat die Augen nicht noch mal geöffnet. 

Wir haben uns weiter an seinem Bett abgewechselt. Ich saß dort im dunklen Zimmer. Nur die Straßenlaterne hat hereingeschienen. Es war total still. Ich hab nur noch seinen Atem gehört. Wie eine Maschine hat er da gelegen, eigentlich bestand er nur noch aus Atem. Ein ewiges Rasseln. Er hat nicht mal mehr den Druck meiner Hand erwidert. 

Es ist traurig, aber nicht tragisch

Ich hab mich gefragt, wie lange ich das noch schaffe. Da zu sitzen und mir dieses Rasseln anzuhören. Und ganz genau hinzuhören: Verändert sich der Atem? Oder bleibt er gleich? Ändert sich sein Gesichtsausdruck? 

Ist das überhaupt noch mein Vater? Hab ich mich auch gefragt. Oder ist der längst woanders? Wie geht sterben? Das wollte ich auch wissen...

Werde ich das aushalten?, hab ich mich gefragt. Gleichzeitig hab ich gedacht: Was haben wir für ein Glück. 

Wir haben es warm. Wir sind sicher, wir sind beide in einem Alter, in dem der Tod zum Leben dazugehört, ganz natürlich. Es ist traurig, aber nicht tragisch.

Mein Vater ist nicht allein.  Und ich bin es auch nicht.  Wir sind beide in einem Alter, in dem der Tod zum Leben dazugehört, ganz natürlich.

Irgendwie kam es mir vor wie: "Sterben de Luxe". Ich weiß nicht - ist es zynisch, so was alles zu denken?

Mein Vater war jetzt so ohne Leben, sein Atem war so schwer, dass wir am nächsten Morgen meine Schwestern angerufen haben, damit sie kommen, um sich zu verabschieden. 

Zeit für den Abschied

Am Nachmittag war dann fast die ganze Familie da - auch drei meiner Neffen. Wir hatten gehofft, mein Vater würde nochmal zu Bewusstsein kommen, wenn die Medikamente ein bisschen ihre Wirkung verlieren. Aber das ist eben nicht mehr passiert. Dr. Kruse kam am Abend wieder vorbei und klebte meinem Vater ein Morphinpflaster auf den Rücken. Er sprach lange mit uns.   

Meine Schwester Svenja musste mit ihren Söhnen nach Hause. Tränenüberströmt kam sie aus dem Schlafzimmer heraus. Sie war die erste, die sich für immer von unserem Vater verabschieden musste. Katja blieb da. 

Wir saßen am Esstisch und haben etwas gegessen, ich weiß noch, es gab den Linsensalat, den meine Mutter oft macht, und einen Schluck Wein haben wir auch dazu getrunken - und manchmal haben wir auch ein bisschen gelacht, obwohl wir wussten: Der Tod kommt jetzt näher. Die Türen zu meinem Vater standen diesmal offen, wie konnten ihn die ganze Zeit atmen hören. Dann haben wir wieder die Nachtschichten verteilt: Irgendwann saßen Katja und ich zu zweit am Bett. Wir hatten ihm eine Kerze angezündet. Wir haben einfach da gesessen. Und nur hin und wieder miteinander geflüstert. 

Körperliche und psychische Grenzen

Sandra: "Und ich habe auch irgendwann gesagt, Katja, ich kann einfach nicht mehr. Dann hab ich gedacht: Okay, Katja ist stark genug, die wird es schaffen. Ich muss nicht mehr dabei sein. Ich hatte irgendwann das Gefühl..." 

Mami: "Du willst gar nicht dabei sein." 

Sandra: "Nicht wollen, aber nicht ums Verrecken quasi dabei sein müssen. Weil ich auch gemerkt hab, bei mir ist jetzt körperlich so eine Grenze erreicht, dass ich jetzt..., oder vielleicht auch psychisch." 
 
Mami: "Also, ich glaube, ich glaube der Körper würde noch länger durchhalten, aber es ist die psychische Belastung." 

Sandra: "Dieses immer auf den Atem hören..." 

Mami: "Und Denken: Leidet er jetzt noch. Wie lange soll er noch, wenn er leidet, so leiden? Also..."

Ich bin sofort eingeschlafen, als ich mich auf meine Matratze im Wohnzimmer gelegt habe. Ziemlich tief sogar. Und dann stand Katja plötzlich neben mir. Und hat mich irgendwie leise und ziemlich ruhig gerufen: "Komm’! Ich glaube..."

Draußen war es stockeduster. Es war fünf Uhr am Freitagmorgen. Es brannte nur die Kerze. Meine Mutter und meine Schwester, die haben meinem Vater die Hand gehalten, als er starb. Ich stand da in meinem Schlafanzug am Fußende des Bettes.

"Ich hab uns beobachtet, wie wir dabei zusehen, wie mein Vater stirbt. Die beiden anderen haben fürchterlich geweint. Ich konnte nicht mehr weinen. Ich war wie abgeschnitten von allem."
Sandra Doedter

Es war einfach komplett absurd, dass mein Vater jetzt tot sein sollte. 

Sandra: "Wir haben ja fast noch gelacht." 
 
Mami: "Ja, weil wir nicht wussten, ob er wirklich tot ist. Ich weiß nur, Du hast erst mal das Fenster aufgemacht und hast gesagt, damit seine Seele raus kann. Und dann waren wir uns nicht sicher."
 
Sandra: "Katja hat ihren Taschenspiegel geholt." 
 
Mami: "Das war dann eigentlich fast wieder lu... (seufzt) Ach ich weiß gar nicht." 

Wahrscheinlich waren wir mit unseren Nerven einfach nur am Ende. Tatsächlich hat Katja in diesem Moment gesagt: "Das ist ja hier wie Sterben für Anfänger." Und wir haben meinem Vater den Spiegel vor den Mund gehalten um zu gucken, ob er doch noch beschlägt. Tat er nicht.

Dann haben wir erstmal alles weggeräumt, was nach Krankheit aussieht. Wir haben das Zimmer wieder schön gemacht für meinen Vater. Das Messing-Kreuz haben wir ihm auf die Brust gelegt, unter die Hände, und die Bettdecke haben wir darüber gezogen. Weil mein Vater ja immer so schnell gefroren hat.

"Das verrückte ist: Es war alles furchtbar. Und trotzdem war es total schön. Wir waren uns einfach unglaublich nah."
Sandra Doedter

Dann haben wir erstmal versucht, ein bisschen zu schlafen. Weil es ja nach ein paar Stunden weiter ging. Wieder kam der Rest der Familie, und immer wieder sind wir zu meinem Vater ins Schlafzimmer gegangen. Wenn die Tür zu war, hieß das, man will allein sein mit ihm.

Mami: "Er ist ja auch noch einen ganzen Tag und eine Nacht bei uns geblieben, und da hätte ich früher niemals gedacht, dass ich das packen würde. Aber ich muss sagen, das war irgendwo ganz toll. Ich konnte immer wieder reingehen, konnte ihn streicheln, konnte ihn angucken. Das ist etwas ganz Kostbares gewesen. Ich glaube, und das war auch die Erfahrung, die wir heute auch als als Bereicherung einschätzen." 

Sandra: "Ich kenne viele, die sagen: hätte ich nicht gekonnt, oder so was. Die Frage stellt sich mir inzwischen gar nicht mehr."  

Mami: "Nein. Stellt sich mir auch nicht. Obwohl es ja kein, es war kein sanftes Sterben, das kann man nicht sagen." 

Sandra: "Ich glaube auch nicht."

Mami: "Von daher meine ich, haben wir ganz schön mitgemacht. Die Nächte. Aber am Ende. Wir wussten ja auch zum Schluss: Es gibt ja keinen Weg drum herum. Es passiert."

Plötzlich ist er nicht mehr da

Am nächsten Morgen lag mein Vater genauso da wie am Tag vorher, er hatte sich kaum verändert. Es war irgendwie ein schöner, vertrauter Anblick: mein Vater in dem Zimmer, in dem er 50 Jahre lang jeden Abend zu Bett gegangen war und jeden Morgen wieder aufgestanden ist.

Gegen drei kamen die Leute vom Beerdigungsinstitut, eine halbe Stunde früher als vereinbart. Das war schlimm. Das ging mir viel zu schnell. Ich bin an den Leuten vorbei ins Schlafzimmer gestürzt und hab noch ein letztes Mal das kalte Gesicht meines Vater gestreichelt. 

Ja, und dann war er weg. 

Das alles ist jetzt fast ein Jahr her. Seitdem hat es keinen Tag gegeben, an dem ich nicht an diese Ereignisse gedacht habe. Manchmal tauche ich dabei extra in diese ganz besondere Stimmung von damals ein.

"Ich frage mich oft, warum es einem nicht leichter gemacht wird, oder selbstverständlicher, zu Hause zu sterben. Wenn man auf die Welt kommt, sind tausende helfende Hände da. Und wenn man wieder geht, werden die meisten einem anonymen Apparat überlassen."
Sandra Doedter

Danke, Herr Kruse!

Sandra: "Wir sind Ihnen ja unendlich dankbar, das haben wir Ihnen ja schon gesagt. Sie haben uns ja was ermöglicht..." 

Kruse: "Das Interessante ist, ... Was ich mitnehme, ist irgendwo auch dasselbe, was Sie oder ihr empfindet. Das ist ein Stück, wie soll ich sagen.... Man wächst. Man wächst, man hat wieder was dazugelernt. Es ist auch ein Geschenk. Das ist auch ganz wichtig. Es ist ein Geschenk, in so eine Ur-Familie hinein tauchen zu können, und für drei oder vier Tage aufgenommen zu werden. Verstehen Sie, was ich meine - das ist eine Wahnsinns-Dynamik, was da für Intimitäten ablaufen. Und das finde ich wunderschön. Das kann man sagen, um es kurz zu machen, ich rede manchmal zuviel: Das ist ein Geschenk."

Ja, das ist ein Geschenk. Ich möchte diese heftigen Tage und Nächte nicht missen. Ohne Frank Kruse wäre mein Vater einen anderen Tod gestorben. Und wir, meine Mutter, meine Schwestern und ich, wir hätten den Tod auch anders erlebt, und wir hätten nicht wachsen können. Zumindest nicht so.

Als der Vater von Einhundert-Autorin Sandra Doedter gestorben ist, da ist sie wie unter einer Gefühlsglocke durch die Welt gelaufen. Sie war einfach total bewegt von dem, was sie erlebt hat. Wenn sie anderen davon erzählte, dann haben viele gesagt, sie hätten das nicht gekonnt: die Hand des eigenen Vaters beim Sterben zu halten, ihn zu berühren, nachdem er gestorben war. Sandra hatte den Eindruck, dass Manche mit dem Tod nichts zu tun haben wollten. Deshalb ist sie auf die Idee gekommen, ihre Geschichte zu erzählen. Sandra hat gemerkt, wie sehr wir den Tod aus unserem Leben gesperrt haben – und dass uns dadurch etwas genommen wird. Sandra hat sich aber auch gefragt, ob sie die Geschichte erzählen darf und soll. Aber als sie mit ihrer Familie darüber gesprochen hat, waren sich alle einig: Ihr Vater hätte gewollt, dass sie es tut.

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