GleichberechtigungNicht alle Menschen mit Behinderung dürfen wählen

Wer 18 Jahre alt ist, darf wählen. Was für die meisten eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, wird etwa 81.000 Menschen mit Behinderung vorenthalten. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel fordert eine Änderung des Wahlrechts. Damit mehr behinderte Menschen in Deutschland bei der Bundestagswahl wählen dürfen.

Deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen dürfen wählen, wenn sie das 18. Lebensjahr erreicht haben, seit mindestens drei Monaten in Deutschland wohnen und – und hier kommt der wichtige Punkt für Menschen mit Behinderung – nicht durch Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes von der Wahl ausgeschlossen ist.

In Paragraf 13 steht, dass Menschen, die "in allen Angelegenheiten" betreut werden, nicht wählen dürfen. Das heißt, Menschen, die einen Betreuer oder eine Betreuerin haben.

81.000 Menschen mit Behinderung dürfen in Deutschland nicht wählen

Deutschlandweit waren das bei der letzten Bundestagswahl ungefähr 85.000 Menschen. 81.000 von ihnen durften nicht wählen, weil sie Vollbetreuung bekommen. 

Die Argumentation zum Paragrafen 13 beruht darauf, dass Missbrauch und Beeinflussung bei der Wahl ausgeschlossen werden müssen. Die Gesetzgeber gehen davon aus, dass Menschen, die dauerhaft betreut werden, keine unabhängigen Wahlentscheidungen treffen können und ihre Betreuer oder zum Beispiel die Eltern beeinflussend auf sie einwirken könnten.

Das könnte natürlich zutreffen bei Menschen, die so schwer eingeschränkt sind, dass sie aufgrund geistiger oder körperlicher Behinderungen erst gar nicht in der Lage sind, einen Wahlwunsch zu entwickeln und zu äußern. Das trifft jedoch längst nicht auf die genannten 85.000 Menschen zu.

"Man möchte also Missbrauch verhindern und hat deshalb diese Menschen ausgeschlossen."
Ilka Knigge, Deutschlandfunk Nova

Viele fühlen sich durch den Ausschluss in ihrem Recht beschnitten. Sie sind der Ansicht, dass sie zum Beispiel auch arbeiten gehen und zusammen mit ihrem Betreuer andere Entscheidungen treffen. Warum also nicht wählen? 

Natalie zum Beispiel. Natalie hat das Down-Syndrom und würde sehr gerne wählen und sagt, dass sie politisch sehr interessiert ist.

"Es ist schon wichtig wählen zu dürfen, um auch die Meinung zu äußern, da ich auch politisch interessiert bin. Zum Beispiel für Saudi-Arabien, für die Flüchtlingskrise auch."
Natalie Dedreux hat das Down-Syndrom und darf nicht wählen

Natalies Mutter findet, dass das Argument der Einflussnahme zu kurz gedacht ist. Wenn sie zu Hause über Politik diskutieren, seien Mutter und Tochter oft nicht derselben Meinung. Die beiden wünschen sich also eine Veränderung des Wahlrechts, so wie der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel.

"Zu Hause in der Familie sprechen wir viel über politische Themen, meine Tochter und ich sind aber letztendlich oft unterschiedlicher Meinung. So viel zum Thema Einflussnahme."
Michaela Dedreux, Mutter von Natalie

Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Ilka Knigge glaubt aber, dass sich da in der nächsten Zeit etwas tun wird. Sie nennt drei Gründe für ihre Annahme:

  1. In einigen deutschen Bundesländern und auch im Ausland werden inzwischen schon mehr Menschen mit Behinderung bei Wahlen zugelassen. In NRW zum Beispiel dürfen Menschen mit Betreuung bei der Landtagswahl ihre Stimme abgeben. So ist es auch in Italien, Irland und der Niederlande.
  2. Auf Bundesebene wird schon länger über den Paragrafen 13 diskutiert. Die Grünen wollen, dass nur die Menschen von der Wahl ausgeschlossen werden, denen durch einen Richter das Wahlrecht entzogen wurde. Das heißt also, dass im Einzelfall entschieden werden müsste, wer wählen darf und wer nicht. Dadurch würden nicht pauschal alle ausgeschlossen, die betreut werden. Und auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD steht: Ziel ist ein inklusives Wahlrecht für alle.
  3. In die Diskussion wird immer wieder die UN-Behindertenrechtskonvention angebracht, die behinderten Menschen garantieren soll, ihre politischen Rechte gleichberechtigt mit anderen auszuüben. Und da kann natürlich diskutiert werden, ob das gerade so ist.

Kritiker der Abschaffung von Paragraf 13 sagen allerdings auch, dass jemand der oder die wählen kann, nicht als voll betreut eingestuft werden sollte. Wenn also auf Bundesebene der Begriff "Vollbetreuung" neudefiniert würde, könnte der Paragraf weiter bestehen – würde aber weniger Menschen ausschließen.

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