Schirin und Sahar sind Schwestern mit zwölf Jahren Altersunterschied. Lange lebten sie in verschiedenen Welten – die eine lernte Rechnen und das Alphabet, die andere machte ihren Führerschein. Heute sind sie Schwestern auf Augenhöhe. Wie das gelang.
Zwölf Jahre liegen zwischen Schirin und Sahar. Sahar ist jetzt Mitte 30, arbeitet und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern zusammen. Schirin studiert und steht am Anfang ihres Berufslebens.
Großer Altersunterschied bei Geschwistern
Der Altersunterschied, prägte ihre Kindheit. Schirin erinnert sich: Sie habe Sahar damals eher wie eine zweite Mutterfigur erlebt als wie eine Schwester.
"Sie war die älteste Schwester, hat viel gearbeitet. Wenn sie kam, hat sie mir etwas mitgebracht. Aber dass wir eine enge Verbindung hatten – so habe ich das nicht wahrgenommen."
Diese Dynamik bestätigt auch Sahar, sie sei nicht bewusst distanziert gewesen, sondern habe durch die berufliche Belastung und die familiären Umstände schlicht wenig Zeit für enge Geschwisterkontakte gehabt. Gemeinsame Erlebnisse, wie eine Reise nach London, seien Ausnahmen gewesen, an die sie heute gerne zurückdenkt.
Dass sich ihr Verhältnis verändert hat, führt Sahar auf eine neue Lebensphase zurück. Sie ist überzeugt, dass ihre Sesshaftigkeit den Kontakt erleichtert hat. Die häufigen beruflichen Reisen seien früher ein Hinderungsgrund für echte Nähe gewesen.
"Durch meine Heirat und mein erstes Kind wurde mein Leben ruhiger – so hatte meine Familie, vor allem Schirin, mehr Zugang zu mir."
Neue Nähe durch neue Rollen
Auch beruflich kamen sich die Schwestern näher. Schirin entschied sich nach dem Abi für einen Weg in der Medienbranche – denselben, den ihre Schwester zuvor gegangen war. "Sie ist ein Vorbild für mich", sagt Schirin heute und erklärt damit, warum sie Sahars Rat bewusst gesucht habe. Die Gespräche seien intensiver geworden, weil sie sich in einer ähnlichen Welt bewegt hätten – mit eigenen Fragen, aber auch mit ähnlichen Träumen. Ein wichtiges Moment für mehr Augenhöhe war für Schirin die wachsende Unabhängigkeit von den Eltern.
"Unsere Mutter wollte immer, dass wir versöhnt sind – ohne tiefere Konflikte wirklich zu lösen."
Erst als Erwachsene habe sie gelernt, Gespräche anders zu führen. Ihre eigene Kommunikationsform zu finden, das sei für sie sehr befreiend gewesen.
Was viele Geschwister im Rückblick erleben, lässt sich auch wissenschaftlich einordnen. Julia Rohrer ist Persönlichkeitspsychologin an der Uni Leipzig und erklärt:
"Erstgeborene übernehmen oft Verantwortung in der Familie. Das beeinflusst die Wahrnehmung. Aber ob sich das wirklich in der Persönlichkeit widerspiegelt, ist fraglich."
Sie weist darauf hin, dass gängige Vorstellungen wie "Erstgeborene sind klüger" oder "Jüngere kreativer" kaum wissenschaftlich belegt sind. In ihren Studien sei der Unterschied zwischen älteren und jüngeren Geschwistern marginal – der entscheidendere Faktor sei das soziale Umfeld, nicht die Geburtsreihenfolge.
Zuhören, statt bewerten
Heute wohnen Schirin und Sahar nur 45 Minuten voneinander entfernt – und sehen sich regelmäßig.
"Für mich das größte Kompliment: Wenn meine Schwester anruft und fragt: 'Darf ich kommen und darf ich länger bleiben?'"
Für sie ist das ein Zeichen dafür, dass Schirin nicht nur ihre Schwester sei, sondern sich auch freiwillig zu ihr hingezogen fühle. Sie betont, dass es sich schön anfühle, wenn ihre Schwester nicht aus Pflicht, sondern aus echtem Wunsch komme.
Auch die Gespräche hätten sich verändert. Für sie sei Schirin ein Fenster in eine andere Welt – mit Geschichten, die ihren Familienalltag bereichern.
"Ich finde es erfrischend. Mein Mann freut sich auch immer, wenn Schirin da ist – sie bringt neuen Input in unseren Vorstadt-Alltag."
Schirin ergänzt, sie habe sich immer wieder gefragt, wie ihre Schwester und deren Partner miteinander umgehen und wie man so eine gesunde Beziehung führt. Dabei sei für sie das Beobachten genauso wichtig gewesen wie das Nachfragen.
"Für Sahar und meinen Schwager ist das schon fast wie der Sonntagabend-Entertainmentkanal, wenn ich vorbeikomme und aus meinem Datingleben erzähle."
Wie belastend alte Rollenbilder im Erwachsenenleben sein können, weiß Inés Brock-Harder, Psychotherapeutin und Hochschulprofessorin mit Schwerpunkt Familie und Geschwisterbeziehungen. Aus ihrer Sicht ist es eine der zentralen Aufgaben des Erwachsenwerdens, sich von alten Familienmustern zu lösen und neue Formen der Beziehung zu suchen – jenseits von Vergleich und Konkurrenz.
"Wir können auch die Geschwisterbeziehung neu definieren. Wir können uns selbst noch mal neu begegnen."
In der Praxis bedeutet das: Reden. Brock-Harder erklärt, dass echtes Interesse, ausgedrückt in Fragen wie "Ich bin neugierig, wie es dir geht. Erzähl doch mal", viel hilfreicher sei als klagende Vorwürfe wie "Warum meldest du dich nie?" Eine offene Haltung ermögliche Nähe, ohne Druck zu erzeugen.
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