Hamburg will vier Afghanen abschieben, in Berlin finden sie Kirchenasyl. Ritta hat das selbst schon erlebt: Sie tauchte vor Jahren in einer Kirche unter, um nicht abgeschoben zu werden. Vom Kirchenasyl als letzten Ausweg – und vom Streit darüber.
Zwei Monate lebte Ritta Zeno mit ihrem Vater in einer Kirche bei Köln. 2021 waren die beiden gemeinsam aus Syrien geflohen, weil sie dort keine Perspektive mehr für sich sahen. Ihre Flucht führte sie über Russland, Belarus und Polen – und von da aus schließlich nach Deutschland.
Angst vor den Bedingungen in Polen
Hier drohte ihnen dann aber die Rückführung. Der Grund: In Polen wurden sie innerhalb der EU das erste Mal registriert. Laut den sogenannten Dublin-Regeln war das Land damit auch für ihr Asylverfahren zuständig.
Nach Polen wollten Vater und Tochter aber auf keinen Fall zurück. Haftähnliche Bedingungen hätten sie dort erlebt, sagt Ritta. Und das deckt sich mit Berichten von Menschenrechtsorganisationen: Pro Asyl schreibt beispielsweise, dass es in Polen regelmäßig zu willkürlicher Inhaftierung von Schutzsuchenden kommt.
"Ich habe wirklich sehr gute Hilfe von diesen Leuten bekommen."
Deshalb suchten die beiden Schutz in einer Kirche. Zwei Monate lebten sie dort – und zwar wirklich buchstäblich in der Kirche, erzählt Ritta: Dort gab es einen Raum, beschreibt sie, der war wie ein Wohnzimmer mit Küche und einem Platz, wo sie schlafen konnten. Ein Zuhäuschen in der Kirche quasi.
Die Menschen dort halfen ihr sehr, erinnert sie sich. Und das Gelände der Kirche war damals ihr Safe Space. Ein bisschen spazieren gehen war schon möglich, erzählt sie. Auch die fünf Minuten Fußweg zum Supermarkt waren mal drin. Aber lange raus oder weit entfernen? Fehlanzeige. Zu gefährlich!
"Wir konnten ein bisschen draußen spazieren gehen, aber nicht so weit. Das durften wir nicht. (...) Es konnte sein, dass wir abgeschoben werden."
Denn jederzeit drohte die Abschiebung. Bei anderen Flüchtlingen hatten sie das miterlebt, es gab einmal einen ganz ähnlichen Fall: Plötzlich kamen Autos, die Familie wurde abgeholt. Aus Angst schlief ihr Vater die ganze Nacht nicht.
In der Kirche konnten sie sich dann erst Mal sicher fühlen. Zumindest Ritta, die damals 17 war, ging es so, erzählt sie. Ihr Vater hatte aber weiter Angst – um Ritta und sich, aber auch um die Familie, die ja noch in Syrien war.
Kirchenasyl in der Kritik
Ritta sagt, sie weiß nicht, wo sie heute – ohne das Kirchenasyl damals – wäre. Für sie und ihren Vater war es die Rettung. Es gab ihnen Sicherheit und Grund zur Hoffnung. Aktuell steht diese Praxis aber mal wieder in der Kritik – wegen eines umstrittenen Falls in Berlin:
Vier Männer aus Afghanistan haben dort in einer Kirche Schutz gesucht. Allerdings ist nicht Berlin sondern eigentlich Hamburg für die Männer zuständig. Der Stadtstaat verlangt nun von der Hauptstadt, die Männer aus der Kirche zu holen, um sie dann nach Schweden zurückzuführen. Denn Schweden wiederum ist in diesem Fall für das Asylverfahren zuständig – so wie bei Ritta damals Polen.
Die Gemeinde in Berlin weigert sich aber. Sie argumentiert: In Schweden drohe den Männern die Abschiebung nach Afghanistan. Dort wiederum sei ihr Leben bedroht, weil sie zum Christentum konvertiert sind.
Kirchenasyl: kein Recht, nur tolerierte Praxis
Aber was ist Kirchenasyl überhaupt? "Kirchenasyl ist keine besondere Art des Asyls", erklärt Gudula Geuther, unsere Korrespondentin im Deutschlandfunk Hauptstadtstudio. Juristisch ist das keine Kategorie, sagt sie, es basiert lediglich auf moralischer Überzeugung. Kirchengemeinden, die Kirchenasyl anbieten, berufen sich dabei auf die Religionsfreiheit im Grundgesetz. Letztendlich wird das dann nur geduldet.
Deswegen, so Gudula Geuther weiter, ist Kirchenasyl auch schon so lange umstritten. Aus den Zeiten der großen Flüchtlingsbewegung 2015 stammt zwar immerhin eine Vereinbarung zwischen den großen Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die regelt ein paar Grundzüge. Geltendes Recht ist das aber eben nicht.
Die Idee von Kirchenasyl: Es soll Zeit schaffen, damit die Behörden noch mal überprüfen können, ob sie einen Fall wirklich richtig eingeschätzt haben – sei es rechtlich oder in der Gewichtung von Faktoren, die dann in die rechtliche Bewertung einfließen würden. Etwa: Liegt vielleicht ein Härtefall vor, der nicht erkannt wurde?
Mehr Zeit für Prüfung durch die Behörden
Die Vereinbarung sieht deshalb auch vor, dass die Fälle möglichst präzise und schnell abgearbeitet werden können. Kirchen, die Menschen aufnehmen, müssen das melden und Dossiers zu den Fällen einreichen. Darin begründen sie, warum sie jemanden bei sich aufnehmen und warum sie einen Fall als Härtefall einschätzen.
Dafür gibt es zum Beispiel eine eigene E-Mail-Adresse als festen Kontaktpunkt und ein bestimmtes Formblatt für die Meldung, damit der Staat schnell einen Überblick bekommen und prüfen kann, ob ein Fall gegebenenfalls neu bewertet werden muss.
Das wird dann geprüft. In der Regel haben die meisten dieser Fälle allerdings keinen Erfolg, erklärt Gudula Geuther. Denn es gibt ohnehin staatliche Härtefall-Kommissionen, in denen auch die Kirchen Mitglieder sind. Eigentlich hat das Kirchenasyl dadurch an Bedeutung verloren, so unsere Korrespondentin.
Kirchenasyl nimmt wieder zu
Die Zahlen waren daher in den letzten Jahren auch gesunken – zuletzt allerdings wieder stark gestiegen: 2024 waren es knapp 3.000 Menschen, denen Kirchengemeinden in Deutschland Schutz gewährt haben. Dass die Zahlen massiv ansteigen, das liegt auch daran, dass es insgesamt deutlich mehr Druck auf die Behörden gibt, sagt Gudula Geuther.
In den meisten Fällen klappt es aber wie gesagt nicht.
Manchmal dauert die Prüfung allerdings lange – oder aber die Kirchen weigern sich, die Menschen herauszugeben. Dann greift eine weitere Regel: Nach sechs Monaten wird Deutschland automatisch zuständig für das Asylverfahren, dann dürfen die Menschen hierbleiben.
Weil es hier bislang so war, dass Menschen etwa nach Afghanistan oder Syrien nicht abgeschoben wurden, hoffen viele, dass sie bleiben können, auch wenn ihr Asylantrag möglicherweise abgelehnt wird. Ähnliches gilt für Palästinenser*innen und Staatenlose.
Missbraucht die Kirche ihre Macht?
Kritiker werfen den Kirchen daher vor, ihre Stellung zu missbrauchen, geltendes Recht zu unterlaufen, Verfahren absichtlich hinauszuzögern und damit Abschiebungen im Grunde genommen zu verhindern.
"Die Kirchen haben rechtlich dabei keine Handhabe. Sie nutzen eine Stellung, die sie haben. Die Moral, die man da möglicherweise Kirchen zugesteht, würde man zum Beispiel Pro Asyl nicht zugestehen."
In den letzten Jahren wurden Kirchen auch immer wieder mal durch die Polizei geräumt. Theoretisch darf sie das, gesetzlich spricht nichts dagegen. Praktisch passiert es aber selten, weil die Kirchen eine gewisse moralische Autorität für sich in Anspruch nehmen.
Und das ist auch der Konflikt gerade bei dem Fall in Berlin: Hamburg sagt, das Dossier sei geprüft gewesen, der Härtefall abgelehnt. Es verlangt daher von Berlin, in die Kirche einzudringen.
Kirchenasyl unter Druck
In den letzten Jahren ist aber auch das Kirchenasyl stärker unter Druck geraten. Kirchenvertreter sprechen davon, dass sie mehr Anfragen erhalten und gleichzeitig der Druck steigt, Menschen auch konsequenter abzuschieben. Trotzdem glaubt Gudula Geuther, dass die großen Kirchen ihre moralische Sonderstellung auf absehbare Zeit behalten werden – wobei das auch von ihrem Umgang mit der Situation abhänge.
"Die Frage, wie sehr das im einzelnen respektiert wird und wie sehr es bei diesen Vereinbarungen bleibt, die es bisher gibt, das ist sicherlich auch eine Frage des Umgangs auch der Kirchen damit.“
Und Ritta aus Syrien? Sie hatte Glück. Zwei Monate war sie mit ihrem Vater im Kirchenasyl. Irgendwann waren die sechs Monate vorbei und Deutschland damit für ihr Asylverfahren zuständig. Ritta hat jetzt hier ein befristetes Bleiberecht. Sie kann aufatmen – und sehr gut nachfühlen, wie es den vier Afghanen in Berlin wohl gehen muss.
"Das bringt mich zum Weinen, weil ich das erlebt habe. Ich weiß, wie schwer das war in der Zeit."
Sie wünscht allen Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden, Hilfe: "Das ist sehr wichtig für die Leute, die ein neues Leben suchen." Sie brauchen einen Ort, wo sie sich sicher fühlen können, sagt sie. Deshalb arbeitet Ritta heute auch selbst mit Geflüchteten. So wie sie damals Hilfe bekommen hat, will sie nun anderen Menschen in der Not helfen.
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