Unsere Gehirne sind anfällig für Spaltung und Polarisierung. Diese Dehumanisierung brachte uns vermutlich einmal evolutionäre Vorteile – wird nun aber zum Problem für unsere Gesellschaft und zur Gefahr für die Demokratie. Was tun? Ein Vortrag über Neuropolitik der Politikwissenschaftlerin Liya Yu.
Unsere Demokratie steht unter Druck. Mit dieser Diagnose ist die Liya Yu nicht allein. Gruppen ziehen sich in ihre Blasen zurück, der gesellschaftliche Diskurs wird schärfer, die Gesellschaft ist zunehmend gespalten.
"Wir haben einen neuen Gesellschaftsvertrag bitter nötig in unseren tief gespaltenen Gesellschaften."
Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, sagt die Politikwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Und der müsste wissenschaftliche Erkenntnisse über unser Gehirn – konkret: neuropolitische Forschung – berücksichtigen, damit er funktionieren kann, appelliert sie.
Neuropolitik als Basis für einen neuen Gesellschaftsvertrag
Der Ansatz der Neuropolitik geht davon aus, dass sich bestimmte Verhaltensweisen – und damit auch politische Phänomene – mit Hilfe von Neurowissenschaft, also Gehirnforschung, erklären lassen.
Beispiel Rassismus: Die Politikwissenschaftlerin stellt in ihrem Vortrag unter anderem Studien vor, die zeigen, wie bei weißen Menschen, die sich selbst nicht als Rassist*innen bezeichnen, Gehirnareale aktiv werden, die für Angst zuständig sind, sobald sie einen schwarzen Menschen sehen.
"Nach dem zweiten Weltkrieg, nach dem Kalten Kriegen haben wir uns zu sehr darauf verlassen, dass ein Wertediskurs ausreicht, um liberale Werte wie Inklusion, Toleranz, Diversität und so weiter aufrecht zu erhalten."
Anders als von vielen behauptet wird, sei ausgrenzendes Denken schon ab der Geburt in uns angelegt: Bereits Babys würden zwischen In- und Out-Gruppen unterscheiden. Für unsere In-Gruppe spüren wir dabei zum Beispiel mehr Mitgefühl als für die Out-Gruppe, wir nehmen sie auch mehr als Menschen wahr als "die anderen", so Liya Yu.
Dehumanisierung: Wir tun es alle
Dieser Mechanismus unseres Gehirns wird Dehumanisierung genannt.
"Für mich ist Dehumanisierung – und alle unsere Gehirne haben diese Fähigkeit – die größte Herausforderung unserer Zeit."
In der Menschheitsgeschichte wird die Dehumanisierung evolutionär Sinn gemacht haben – die Politikwissenschaftlerin kann ihr dahingehend auch positive Seiten abgewinnen. Vor allem aber wird uns unsere Fähigkeit zum Dehumanisieren zum Verhängnis, glaubt Liya Yu: Weil sie eben zu Polarisierung, Spaltung und Konflikten führe.
"Wir können nicht friedlich, nicht glücklich und im Wohlstand als globales Erdvolk zusammenleben, wenn wir nicht diese Dehumanisierungsfähigkeit in den Griff bekommen."
Liya Yu hat Politikwissenschaft an der University of Cambridge und der Columbia University New York studiert, wo sie zu Politischen Neurowissenschaften, rassistischer Ausgrenzung und Entmenschlichung promoviert hat. Derzeit ist sie Research Fellow am Institut für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zum Thema Neuropolitik hat sie das Sachbuch "Vulnerable Minds: The Neuropolitics of Divided Societies" geschrieben, auf dem auch dieser Vortrag basiert. Ein weiters Buch zum Thema ist derzeit in Arbeit.
Außerdem schreibt Liya Yu auch Fiction, macht Tanz-Performance und Musik und engagiert sich gegen Rassismus. Diesen interdisziplinären Ansatz nennt sie "Gesamtkunstbefreiung".
Ihren Vortrag mit dem Titel "Neuropolitik – Neue Wege aus Populismus und Polarisierung: Ein neuer Gesellschaftsvertrag für unsere gespaltenen Demokratien" hat sie im April 2025 im Rahmen der Tage der Utopie gehalten, die der Verein zur Förderung enkeltauglicher Zukunftsbilder im österreichischen Götzis veranstaltet hat.
- Yu, Liya (2022): Vulnerable Minds - The Neuropolitics of Divided Societies. Columbia University Press, New York.
- Vortragsbeginn
