Lydia fühlt sich fremd in ihrer Familie: Sie zieht weg und macht eine Therapie. Inzwischen hat sie ein besseres Verhältnis zu ihren Eltern als je zuvor. Eine Sozialpsychologin und ein Soziologe sprechen über Entfremdung von den eigenen Eltern.
Lydia hat das Gefühl, nicht wirklich zu ihrer Familie dazuzugehören. Sie ist anders als ihre Schwestern und ihre Eltern können sie nicht verstehen. Sie sind verständnislos und unempathisch. Lydia fühlt sich nicht geliebt, sondern eher wie ein Fremdkörper in der eigenen Familie.
"Weil ich so anders war: Anders als meine Schwestern, anders als der ganze Teil meiner Familie."
Sie fühlt sich so fehl am Platz, dass einen Moment gibt, indem sie heimlich einen DNA-Test machen lassen will. Dafür besorgt sie sich aus der Bürste im Badezimmer Haare von ihren Eltern und packt auch welche von sich selbst in ein separates Tütchen. Diese "Proben" schickt sie aber nie ab. Irgendwas hindert sie daran. Sie weiß es selbst nicht genau. Möglicherweise die Ausweglosigkeit, wenn sie feststellt, dass es tatsächlich ihre Eltern sind.
Erwartungshaltung der Eltern: Die zugeschriebene Rolle der Rebellin verinnerlicht
Lydia wird in einem recht konservativen und verschlossenen Elternhaus groß. Die Eltern sind religiös und haben kein Verständnis dafür, dass Lydia sich mit Menschen anfreundet, die nicht christlich sind. Außerdem ist sie nicht so gut in der Schule, wie ihre beiden Schwestern, die sieben und zehn Jahre älter sind als Lydia. Ihre Eltern reagieren mit Unverständnis.
Kein Verständnis für Lydias Weltoffenheit
Lydia ist neugierig, möchte die Welt kennenlernen und erleben. Ganz anders, als ihre Eltern. Sie sagt, dass die Erziehung bei ihren Schwestern im Sinne der Eltern "funktioniert" habe, nur eben bei ihr nicht. Lydia gilt in der Familie als die Rebellin. Irgendwann verinnerlicht sich die zugeschriebene Rolle, auch wenn sie sich selbst nicht in dieser Rolle sieht.
Sie fühlt sich ungeliebt. Lydia sagt, dass das gar nicht gut für sie war, und dass es viel in ihrem Kopf und in ihrem Herzen "kaputtgemacht" hat. Nach der Schule zieht sie aus, um in einer anderen Stadt zu studieren. Das ist befreiend für Lydia, die nun endlich so sein kann, wie sie ist.
"Sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen können, weil ich die jüngste von drei Töchtern bin."
Lydia beginnt eine Therapie, versucht die Beziehung zu ihren Eltern besser zu verstehen, besser mit manchen Situationen umzugehen. Sie nimmt immer wieder den Kontakt auf, lässt dabei aber auch ihre Eltern nicht aus der Verantwortung.
Sie konfrontiert sie mit ihrer Sicht der Dinge, mit ihrer Perspektive auf die Verletzungen, die ihr zugefügt wurden. Schritt für Schritt bewegt sie sich, nach einer Zeit des Kontaktabbruchs, wieder auf ihre Eltern zu. Inzwischen erfährt sie mehr Zuwendung und Nähe als in ihrer Kindheit und dafür ist Lydia dankbar.
"Ich wollte eigentlich weggehen und nie wiederkommen. Das hat nicht wirklich funktioniert."
Oliver Arránz Becker ist Soziologe an der Uni Halle-Wittenberg. Er hat an einer Langfriststudie zur Entfremdung von den Eltern mitgearbeitet. Über zehn Jahre lang wurden Menschen zwischen 18 bis 45 Jahren, die nicht mit ihren Eltern leben, befragt. Dabei ging es um die Häufigkeit des Kontakts, aber auch darum, wie nah sich Kinder emotional zu ihren Eltern fühlen.
Herauskam, dass Entfremdung zu den eigenen Eltern nicht selten ist. Im Bezug auf die Väter gaben 20 Prozent der Befragten an, während dieser zehn Jahre mindestens einmal eines der Entfremdungskriterien der Studie zu erfüllen. Bei der biologischen Mutter war es hingegen knapp jeder Zehnte.
Bei Stiefeltern ist der Anteil noch höher: Knapp die Hälfte der Befragten gibt bei Stiefvätern Entfremdung an und sogar zwei Drittel bei den Stiefmüttern.
Es zeigte sich aber auch, dass die Entfremdung insgesamt meist eine zeitlich begrenzte Episode im Leben ist und Kinder und Eltern dann wieder zueinanderfinden. Genauso, wie es auch bei Lydia der Fall war.
Neugier und Offenheit für die Entwicklung des Kindes
Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern ist immer komplex. Wann grenzt man sich ab und wann ist man offen und lässt Nähe zu? Sarah Trentzsch ist Sozialpsychologin und bietet Familienberatung an. Aus ihrer Praxis kennt sie viele unterschiedliche Familiendynamiken.
Sie sagt, dass in einer Eltern-Kind-Beziehung nicht nur Sicherheit und Stabilität wichtig sind, sondern dem Kind auch die Freiheit gegeben werden sollte, sich zu entfalten und zu entwickeln.
Dabei ist es auch wichtig, dass die Eltern offen und neugierig sind, während sie diesen Prozess begleiten. Was alles zu einer guten Beziehung zwischen Eltern und Kindern dazu gehört, erläutert die Sozialpsychologin ausführlich in dieser Podcast-Folge, die ihr über den Play-Button ganz oben auf dieser Seite abspielen könnt.
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