In der Nacht vom 20. auf den 21. November 1945 wurde Wilhelm Hamelmann, der Großvater von Lilli Heinemann, Opfer eines Gewaltverbrechens, das er als einziger von 13 Menschen überlebte. Seine Frau und seine vier Kinder werden in dieser Nacht dabei umgebracht. Lillis Großvater gründet danach eine neue Familie, Lilli lernt ihn allerdings nie kennen, weil er vor ihrer Geburt stirbt. Trotzdem lässt die Geschichte ihres Opas sie nicht los, weil sie sich fragt: Wie viel von seiner Vergangenheit steckt auch in mir?
Lilli Heinemann arbeitet mehrere Jahre in London in der Modebranche. Doch kurz vor ihrem 30. Geburtstag gibt sie ihren Job auf, verabschiedet sich von ihren Freundinnen und zieht nach Berlin. Sie will dort Journalismus studieren und in ihrer Masterarbeit die Geschichte ihres Großvaters aufarbeiten. (Das Ergebnis könnt ihr hier im Zeit Magazin nachlesen – leider mit Paywall.)
Seine Geschichte begleitet Lilli schon ihr ganzes Leben, obwohl ihr Großvater schon vor ihrer Geburt gestorben ist. Die meisten Dinge über diese Geschichte weiß Lilli aus einem kleinen grünen Buch. Das hat ihr Opa irgendwann mal selbst geschrieben und es lag, solange sie denken kann, in einem Schrank bei ihren Eltern zuhause:
Die Geschichte der Blocklandmorde
In der Nacht vom 20. auf den 21. November 1945 überfallen mehrere Männer den Bauernhof im Bremer Blockland, wo Lillis Großvater Wilhelm Hamelmann mit seiner Frau, den vier Kindern, den Schwiegereltern und einigen Angestellten nach dem Krieg lebt. Wohnraum ist knapp und auf dem Hof wohnen 13 Menschen.
Die Einbrecher holen alle Bewohner aus den und sperren sie in ein Zimmer. Dann durchwühlen sie das Haus nach Lebensmitteln und Wertsachen. Zunächst denkt Lillis Großvater noch, dass die Männer nach dem Raub einfach verschwinden würden. Doch am Ende treiben die Einbrecher die 13 Bewohner in den Keller und erschießen sie.
Wilhelm Hamelmann überlebt schwer verletzt
Nur Lillis Großvater überlebt. "Er hatte Schusswunden in der Lunge, im Fuß, im Unterarm und im Gesäß und war superschwer verletzt, aber er hat es irgendwie geschafft, sich tot zu stellen", sagt Lilli.
"Der Anführer kam nochmal zurück und hat getestet, ob mein Großvater wirklich tot ist. Er hat die Beine genommen und runterfallen lassen."
Nach der Tat kann sich Lillis Großvater schwer verletzt zu einem anderen Hof retten, dort wird die Polizei gerufen und Wilhelm Hamelmann kommt ins Krankenhaus. Es stellt sich kurze Zeit später raus, das die Täter sogenannte Displaced Persons waren, also ehemalige polnische Zwangsarbeiter.
Einige dieser Täter werden relativ schnell gefasst und kommen vor ein amerikanisches Militärgericht, Bremen gehörte damals zur amerikanischen Besatzungszone. Die Urteile fallen hart aus: Vier der Männer werden zum Tode verurteilt, vier weitere bekommen lebenslange Haftstrafen. Der Anführer wird nie gefasst.
Bei ihren Recherchen erfährt Lilli, dass die Tat offenbar spontan passiert ist – womöglich als Racheakt. Denn der Anführer hat während des Kriegs seine komplette Familie verloren, sie wurde von der SS getötet.
Wilhelm Hamelmann vergibt den Tätern
Lillis Großvater war schon immer ein sehr christlicher Mensch. Er liegt nach der Tat mehrere Monate im Krankenhaus und kann nicht an der Beerdigung seiner Familie teilnehmen. Er bittet aber darum, dass die Grabreden nicht zur Hetze gegen die Täter benutzt werden.
Wilhelm Hamelmann sei es trotz der schrecklichen Tat wichtig gewesen, dass "nicht ein Volk für die Verbrechen einiger seiner Angehörigen verantwortlich gemacht wird", erzählt Lilli Heinemann. Ihr Großvater geht dann sogar noch einen Schritt weiter und vergibt den Tätern. Jahrzehnte nach der Tat wird er sich für deren Begnadigung einsetzen.
"Unser Haus war stets ein Haus der Liebe, wo die Niedrigen geachtet und den Ärmsten geholfen wurde. Gerade die heutige Zeit ist dazu angetan, dass die Menschen wieder anfangen, sich gegenseitig zu schätzen und wohlzutun. Das ganze Volk hält Ausschau nach denen, die fähig sind, in der Tat der Liebe und nicht des Hasses zu führen."
Nachdem Wilhelm aus dem Krankenhaus entlassen wird, heiratet er wieder und gründet eine neue Familie. Er wird wieder Vater von drei Mädchen und einem Jungen. Seine drei ersten Kinder tragen die Namen der verstorbenen Kinder. Nur Lillis Mutter bekommt einen anderen Namen, allerdings fällt ihr Geburtstag auf das gleiche Datum wie jene Nacht, in der die erste Familie getötet wurde.
"Über die Geschichte wurde eigentlich nie gesprochen."
Obwohl Lillis Großvater den Tätern vergeben hat, hat diese Tat in seiner neuen Familie keine große Rolle gespielt. Alle wissen zwar, dass es dieses Verbrechen gab, aber die meiste Zeit wird darüber geschwiegen. Die erste Person, die wirklich nachfragt und mehr darüber erfahren will, ist Enkelin Lilli.
Sie recherchiert im Staatsarchiv Bremen und befragt ihre Verwandten. "Aus den Gesprächen mit meinen Verwandten habe ich erfahren, dass über die Geschichte eigentlich nie gesprochen wurde. Dass zwar alle wussten, was passiert war, aber dass sie alle nicht mehr wissen, wann sie davon erfahren haben", erzählt Lilli.
"Geheimnisse wirken in einer Familie oft viel stärker, als Dinge die erzählt wurden."
Lilli beschäftigt sich daraufhin mit transgenerationalem Trauma, sie spricht mit einer Therapeutin und anderen Experten.
Was sie dabei über sich und ihre Familie rausfindet, hört ihr im Beitrag.
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