Gedenkstätten sollen an die NS-Verbrechen erinnern. Aber funktioniert das wirklich gut? Da ist Luft nach oben, findet der Historiker Jens-Christian Wagner. In seinem Vortrag erklärt er, warum die Art, wie wir uns erinnern, für unsere Zukunft wichtig ist, und macht Vorschläge für eine nachhaltigere Erinnerungskultur.
Am 8. Mai 2025 jährt sich die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht zum 80. Mal. Im ganzen Land wird in diesen Tagen der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht, an die Opfer der NS-Zeit erinnert und an die Täter*innen. Auch in den Gedenk- und Dokumentationsstätten und Lernorten.
Mehr als 300 gibt es davon mittlerweile in Deutschland, von denen die allermeisten erst ab Ende der 80er Jahre entstanden, berichtet der Historiker Jens-Christian Wagner in seinem Vortrag. Diesen "kometenhafte Aufstieg der Gedenkstättenarbeit" begrüßt er. Dennoch kritisiert er die Erinnerungskultur in Deutschland – und ist damit nicht allein.
"Es macht sich bei kritischen Beobachtern, gerade auch innerhalb der Gedenkstätten, zunehmend ein Unbehagen an der aktuellen Erinnerungskultur breit."
Neben anderem bereiten ihm etwa die "ritualisierten, pathoshaften Beschwörungsformeln im politischen und gesellschaftlichen Diskurs" Unbehagen, aber auch Defizite der Gedenkstätten-Didaktik. In seinem Vortrag geht er hart mit dem "historisch entleerten Erinnern" in die Kritik.
"Mit dem historisch entleerten Erinnern, mit dem unterschiedslosen Beweinen der Opfer des 20. Jahrhunderts ist in den vergangenen gut 20 Jahren eine Art Wohlfühl-Erinnerungskultur entstanden."
Eine solche Erinnerungskultur blendet Gründe aus, kritisiert er unter anderem, und sei "vollkommen losgelöst von Geschichtsbewusstsein und Reflexion über Geschichte und Gegenwart, vollkommen beliebig und damit auch anschlussfähig für diejenigen, für die ein kritischer Blick auf die NS-Verbrechen ein Dorn im Auge ist".
"Trotz des Ausbaus der Gedenkstättenarbeit in den letzten zwanzig Jahren feiern Rechtsextreme und Rechtspopulisten einen Wahlerfolg nach dem anderen und es verbreiten sich im Internet geschichtsrevisionistische Mythen viral."
Was also müsste sich ändern? In seinem Vortrag erklärt der Historiker, wie eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Erinnerungskultur seines Erachtens aussehen sollte.
Erinnerungskultur muss zukunftsgerichtet sein
Zum Beispiel müsse sehr viel stärker auch nach den Täter*innen, Mittäter*innen und den Profiteur*innen und deren Motivation gefragt werden – und damit auch danach, wie das System Nationalsozialismus, wie die nationalsozialistische Gesellschaft funktioniert hat.
Zentral dabei die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Jens-Christian Wagner zählt in seinem Vortrag Gründe auf und sieht dabei einen erschreckenden Gegenwartsbezug: "Viele der genannten Punkte sind nicht spezifisch nationalsozialistisch geprägt, sondern entfalten mehr oder weniger stark auch heute noch bei viele Menschen ihre Wirkung – und das jenseits falscher Analogiebildungen."
"Die Gegner der liberalen, offenen Demokratie schaffen es überall mit denselben Mitteln, Wählerstimmen zu sammeln: Angstmacherei gegenüber vermeintlich Fremden, Schüren des Nationalismus, Diffamierung und Ausgrenzung politischer Gegner als Volksfeinde."
In seinem Vortrag setzt er seine Vorschläge für eine gegenwartsbezogene Erinnerungskultur in Bezug zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland. So verweist er etwa auf die Migrationsdebatte im Bundestagswahlkampf und die Rolle der AfD, aber auch anderer Parteien. "Das sind genau die Kriminalisierungsdiskurse, die wir im Nationalsozialismus schon sehen", sagt Jens-Christian Wagner. Er betont dabei, dass dies nicht gleichzusetzen ist, dass es aber sehr wohl ähnliche Wirkungsweisen einer "Propaganda der Angst und Unsicherheit" gebe.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die AfD als "gesichert rechtsextremistisch" eingestuft. Die Partei hat in einem Eilverfahren dagegen geklagt. Deswegen hat der Verfassungsschutz eine sogenannte Stillhaltezusage abgegeben und wird die Partei bis zur gerichtlichen Klärung nicht öffentlich als "gesichert rechtsextremistisch" bezeichnen. Die Einstufung wird allerdings nicht zurückgenommen.
"Ziel muss es sein, Geschichtsbewusstsein und historische Urteilskraft zu stärken."
Der Blick auf die Geschichte darf sich daher nicht auf "schwülstiges Pathos und Betroffenheitskitsch oder auf das Lernen von Daten, Namen und Ereignissen" beschränken, appelliert der Historiker, sondern müsse Zusammenhänge reflektieren und Parallelen und Unterschiede differenziert und wissenschaftlich fundiert herausarbeiten.
"Geschichtsbewusstsein bedeutet, historische Prozesse einschließlich ihrer Ursachen und Folgen und die historische Bedingtheit des eigenen Lebens zu verstehen. Und das kann nur in einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte geschehen."

Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena. Seinen Vortrag "Geschichte begreifen - für die Zukunft handeln" hat er am 5. Mai 2025 in Emden gehalten.
Dort hatte die Max-Windmüller-Gesellschaft zusammen mit dem Max-Windmüller-Gymnasium zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen. Anlass war der 80. Jahrestag der Ermordung von Max Windmüller, einem Widerstandskämpfer, der in Emden geboren wurde, und der nur wenige Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht während eines Todesmarsches am Straßenrand von einem SS-Mann erschossen wurde – im Alter von 25 Jahren.
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