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Schizophrenie, Depression, bipolare Störung: Der Erzähler in Leon Englers Roman "Botanik des Wahnsinns" ist vorbelastet, seine ganze Familie ist psychisch krank. Es wird also auch ihn treffen, oder? Er flieht vor seiner Familie – und dieser Frage.

Jetzt ist er auch hier gelandet. Leon sitzt in einem tristen Büro mit PVC-Boden, überschaubarem Mobiliar und einer sterbenden Zimmerpflanze. Leon mag es trotzdem.

Draußen vor dem Fenster steht ein uralter, mächtiger Walnussbaum. Weil sich einige seiner Äste nicht mehr selbst tragen können, sind sie mit Seilen am Stamm fixiert. Dieser Anblick erinnert Leon an eine Zwangsfixierung. Und er fragt sich unweigerlich, ob der Walnussbaum vor achtzig Jahren hier hat Menschen sterben sehen…

Leon will zur Abwechslung mal in der Gegenwart leben

Hier, das ist die geschützte Station einer Psychiatrie am Rande einer Stadt. Das Klinikgelände ist weitläufig und unerwartet schön. Überall stehen Bäume. Es gibt ein Café. Und ein Museum über die Gräueltaten der Nationalsozialisten.

Die Backsteingebäude der Klinik setzen seltsame Erinnerungen in Leon frei. Eine Erklärung hat er nicht dafür, und er würde sich zur Abwechslung gern mal an gar nichts erinnern, sondern nur in der Gegenwart leben. Im Hier und Jetzt.

Leon fühlt sich in der Psychiatrie zugehörig

Die geschützte Station ist das, was sich die Allgemeinheit unter einer Psychiatrie vorstellt: Fixiergurte an den Betten, Türen aus Stahl in den Fluren, Monotonie, Wahnsinn und Gestank. Manche Patient*innen – nicht alle! – müssen Tag und Nacht beobachtet werden, zu ihrer eigenen Sicherheit.

Die, die nicht fixiert und ständig beobachtet werden müssen, sitzen lachend im Hof und rauchen. Da offenbart sich gar kein Zwang, und vor allem: nichts Abstoßendes. Leon muss sich eingestehen: er fühlt sich zugehörig.

Was ist eigentlich normal?

Und jetzt braucht er dringend einen Kaffee. Aber als er das Dienstzimmer der Pflege betritt und geradewegs auf die Pump-Thermoskanne zusteuert, packt ihn plötzlich eine Pflegerin am Arm, schiebt ihn aus dem Zimmer hinaus und schließt die Tür. "Ich arbeite hier", sagt Leon wenig überzeugend durch die Glasscheibe in der Tür. "Das höre ich jeden zweiten Tag", antwortet die Pflegerin.

Eine Anamnese von sich selbst

Er kann es ihr nicht verübeln. Es ist sein erster Tag auf der Station, er trägt sein Namensschild nicht und er ist äußerlich rein gar nicht von den Patient*innen zu unterscheiden. Aber Leon ist Psychiater – und damit der erste in seiner Familie, der eine Psychiatrie nicht als Patient betritt.

Er hat die Seite gewechselt. Das fühlt sich komisch an. Noch komischer wird es, als ihm die leitende Psychiaterin seine erste Aufgabe gibt. Leon soll eine Aufnahme machen, also: eine Akte anlegen, mit Anamnese und Diagnose und so weiter. Von sich selbst.

"Leon Engler erzählt von einem jungen Mann, der es lange geschafft hat, vor seiner Familiengeschichte wegzurennen, bis es nicht mehr weiter geht."
Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Lydia Herms über den Roman "Botanik des Wahnsinns"

"Botanik des Wahnsinn" heißt das Roman-Debüt von Leon Engler, der bisher Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten geschrieben hat. Ein studierter Psychologe ist er auch. Und mit dem Psychologen Leon in seinem Roman erzählt der Schriftsteller Leon von einem jungen Mann, der es lange geschafft hat, vor seiner Familiengeschichte wegzurennen, bis es nicht mehr weiter geht.

Leons Mutter stirbt. Durch ein Versehen wird ihr Nachlass verbrannt, und Leon bleiben sieben Kartons randvoll mit Abfall, also mit den Zeugnissen einer trostlosen Existenz, die eigentlich hätten verbrannt werden sollen. Keine Fotos, Bücher oder Erinnerungsstücke, sondern nur ungeöffnete Briefe, Quittungen und Inkassoschreiben.

Alle in seiner Familie haben eine Diagnose

Erst Jahre später traut sich Leon diese Kartons zu öffnen. Um einen Anfang für seine eigene Geschichte zu finden, für seine Akte. Aber wo beginnt seine Geschichte? Bei seiner Geburt? Oder schon viel früher?

Immer wieder landet er beim Erinnern bei den Diagnosen in seiner Familie. Bei den Fach-Codes dafür. Seine Mutter war eine F 10.2, alkoholabhängig. Sein Vater war eine F 33.2, depressiv. Sein Opa war eine F 20.0, schizophren, und seine Oma, die war ganz, ganz viele Fs auf einmal.

Und sein seiner Kindheit wartet Leon darauf, dass er auch verrückt wird. Wie alle in seiner Familie. Verrückt, verarmt, verschwunden – oder alles gleichzeitig. Er fragte sich: Warum sollte ausgerechnet er "normal" sein und leben? Heute fragt er sich: Was ist überhaupt normal? Und wie geht das eigentlich: leben?!

Das Buch:

"Botanik des Wahnsinns" von Leon Engler, Dumont, 207 Seiten, gebundene Ausgabe: 23 Euro, eBook: 19,99 Euro, Hörbuch-Download: 19,99 Euro oder im Stream, gelesen von Johannes Nussbaum, knapp 5 Stunden. Erschienen am 12.08.2025.

Der Autor:

Leon Engler, 1989 geboren, wuchs in München auf und studierte Theater-, Film-, Medien-, Kulturwissenschaft und Psychologie in Wien, Paris und Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten und wurde 2022 mit dem 3sat-Preis beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Er ist tätig als Autor, Psychologe und Dozent für Psychologie und Literarisches Schreiben. "Botanik des Wahnsinns" ist sein Debütroman.

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…wenn du schon lange nicht mehr mit deinen Eltern telefoniert hast
vom 30. November 2025
Autorin: 
Lydia Herms