Irgendwie dabei und doch außen vor: Mias Bruder hat das Down-Syndrom. Früher hat sie das verheimlicht – heute kämpft sie für Inklusion. Barrierefreiheit und ein faires Miteinander gelingen nur, wenn alle mitdenken und echte Begegnungen möglich sind.
Es gibt viele Barrieren, die nicht-behinderten Menschen im Alltag nicht bewusst sind. Deshalb haben wir gefragt, welche Hürden und Barrieren behinderte Menschen haben, und was sie sich von der Gesellschaft wünschen.
"Ich stoße oft auf viele kleine Hürden, die andere oft nicht wahrnehmen: zu grelles Licht, zu viel Chaos, zu laute Musik beim Einkaufen, lange Wartezeiten und ein lautes Wartezimmer bei Ärzt*innen": Das sind Hürden, auf die Linda, Autistin mit ADHS, im Alltag stößt. Sie stört besonders, dass sie das immer wieder erklären muss.
"Behinderungen gehören zur Gesellschaft"
Katrin hat eine Hörbehinderung. Sie wünscht sich Untertitel bei Videos oder Veranstaltungen. Viel schwieriger sind für sie jedoch "die Barrieren, die alle in ihren Köpfen tragen": Menschen behandeln sie oft anders. "Behinderungen sind kein Sonderfall, sondern sie gehören zur Gesellschaft dazu." Inklusion müsse gelebt werden - zuhören, offen Fragen stellen, gemeinsam nach Lösungen suchen.
Der gehörlosen Schauspielerin Cindy begegnen im Alltag oft Hürden: "Alles, was mit Sprache zu tun hat, ist eine Barriere für mich." An Veranstaltungen ohne Untertitel oder Gebärdendolmetscher kann sie nicht teilhaben. "Ich würde mir wünschen, dass Barrierefreiheit auch gehörlose Menschen mitdenkt."
Die ausführlichen Statements der drei könnt ihr in der Podcast-Folge hören - einfach oben auf Play klicken.
Mia hat in ihrem Alltag selten Menschen mit Behinderung getroffen – außer ihren Bruder, der das Down-Syndrom hat. Er war für sie ein Einzelfall, nicht die Normalität. Immer wieder hörte sie auch Beleidigungen.
Damals wollte sie die genetische Anomalie ihres Bruders vor anderen am liebsten geheim halten. Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderung hatte sie selten. Beispielsweise dann, wenn sie von ihren Eltern zum Sommerfest an der Schule ihres Bruders mitgenommen wurde.
"Wäre das gesellschaftlich von Anfang an anders gewesen - mehr Offenheit, mehr Zugänge für Menschen mit Beeinträchtigungen, dann hätte ich, glaube ich, auch anders darüber gedacht."
Mit der überschwänglichen Freude und Offenheit der Kinder mit bestimmten Behinderungen konnte sie damals nicht gut umgehen, weil sie den Kontakt nicht gewohnt war. Es hat sie überfordert, sagt sie. Auch das steht einer echten Inklusion im Weg.
Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen sind selten
Heute setzt sich Mia beruflich, ehrenamtlich und in der Öffentlichkeit dafür ein, dass Menschen mit Behinderung häufiger in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen sind, damit diese Begegnungen für möglichst viele Menschen alltäglich werden.
Als sie und ihr Bruder jünger waren, gab es beispielsweise kaum Sportvereine, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen Sport gemacht haben. Das ist für Mia das Ziel: mehr gemeinsame Räume und damit auch mehr gemeinsame Erfahrungen schaffen.
In der Soziologie ist Inklusion ein ganz neutraler Begriff, sagt die Soziologin Sarah Karim. Er bezeichnet, ob wir in irgendetwas eingeschlossen sind, das heißt, dabei mitmachen können, oder eben nicht.
"Inkludierenden Exklusion"
Die Soziologin findet es besonders interessant, die Perspektive etwas umzukehren und darauf zu schauen, weshalb Inklusion überhaupt notwendig geworden ist. Das heißt, zu fragen, welche Bereiche in unserer Gesellschaft für wen exkludierend – also ausschließend – sind, erläutert sie. Sie spricht von einer inkludierenden Exklusion, das heißt, dass Menschen ausgeschlossen sind, obwohl sie zur Gesellschaft dazugehören.
1994: Änderung in Artikel 3 des Grundgesetzes
Zwei wichtige Schritte, um die Dazugehörigkeit von behinderten Menschen auch gesetzlich festzuschreiben, war 1994 die Änderung von Artikel 3 des Grundgesetzes, sagt Sarah Karim. Diesem Artikel wurde der Satz hinzugefügt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Ein weiterer grundlegender Schritt für die Gleichberechtigung von Behinderten war die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008, die Deutschland auch ratifiziert hat. Damit hat sich Deutschland verpflichtet, Inklusion in allen Lebensbereichen für Menschen mit Behinderung umzusetzen.
Inklusion: Deutschland von den Vereinten Nationen gerügt
Diese rechtlichen Vorgaben erfüllt Deutschland in der Realität aber nicht. Denn das Förderschulsystem, das Menschen mit bestimmten Behinderungen durchlaufen, besteht weiterhin. Hier herrscht also Trennung und keine Inklusion. Zudem arbeiten rund 300.000 behinderte Menschen in Werkstätten und erhalten dafür noch nicht einmal den Mindestlohn. Auch in diesem Bereich fehlt somit die Inklusion.
Ein Erstarken der politischen Rechten könnte die Situation von Menschen mit Behinderungen zudem verschlechtern, sagt die Soziologin Sarah Karim. Ein Abbau des Sozialstaats und Rückschritte im Gesundheitswesen würden Menschen mit Behinderung zudem besonders treffen, ergänzt sie.
"Fakt ist, dass Parteien wie die AfD mit Inklusion nicht viel anfangen können. Björn Höcke hat das als Irrweg bezeichnet. Je stärker diese Kräfte werden, desto schlechter ist es auch für Menschen mit Behinderung."
Die Schwierigkeit bei dem Thema beginnt oft schon beim Wort, sagt Raúl Krauthausen, Speaker und Inklusionsaktivist. Er beobachtet, dass nichtbehinderte Menschen sich beim Wort Behinderung oder behindert unwohl fühlen - und stattdessen Euphemismen nutzen wie "anders begabt", "beeinträchtigt", "special need", um das Wort zu vermeiden.
Das liegt daran, dass das Wort "behindert" oft auch als Schimpfwort genutzt wird. Für Raúl Krauthausen sollte das aber kein Grund sein, das Wort zu vermeiden. "Behinderte Menschen nennen sich in der Regel 'behindert'. Dass nichtbehinderte Menschen ein Problem damit haben, ist nicht das Problem der Menschen mit Behinderung."
Beim Thema Inklusion fallen oft Phrasen wie, dass man Berührungsängste abbauen müsse. Der Aktivist sieht das kritisch, weil daraus wenig folgt. Er fragt stattdessen: Wie lässt sich konkret etwas ändern? "Es ist die Begegnung. Wir machen es nichtbehinderten Menschen zu einfach, sich dem Thema zu entziehen."
Jeder zehnte Mensch sei behindert - aber das spiegelt sich in vielen Freundeskreisen nicht wider. "Das werden wir so schnell nicht ändern können. Aber wir können den ersten Schritt gehen."
Man kann also auch aus der Perspektive von Nichtbehinderten kommunizieren, dass hier etwas fehlt."
Wie lässt sich das ändern? "Es fängt mit Neugier an", sagt Raúl Krauthausen. Wie geht es Menschen mit Behinderung? Wie ist deine Perspektive? Dazu gibt es Literatur, Filme, Serien. Und der Aktivist hat noch einen weiteren Tipp: Wenn der Verein, die Sportgruppe, der Filmclub etc., in den man regelmäßig besucht, barrierefrei oder -arm ist: von sich aus kommunizieren.
"Behinderte Menschen müssen ständig fragen, ob etwas zugänglich ist, und meistens gibt es keine oder eine negative Antwort. Wenn aktiv kommuniziert wird, dass es barrierefrei ist, fühlt man eingeladen." Auch auf der Arbeit könnte man Vorgesetzte fragen, warum keine oder wenige Menschen mit Behinderung hier arbeiten. "Man kann also auch aus der Perspektive von Nichtbehinderten kommunizieren, dass hier etwas fehlt."
Hinweis: Der Artikel wurde überarbeitet. Wir haben unter anderem ein diskriminierendes Wort entfernt.
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