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Zehn Jahre zivile Seenotrettung – und jetzt das Aus? Der Bundestag streicht die Förderung, während NGOs auf dem Mittelmeer immer stärker blockiert werden. Italien hält Schiffe fest, Boote mit Geflüchteten treiben tagelang auf See – ohne Hilfe. Wie ist es so weit gekommen?

Ende 2013 ertrinken an Europas Außengrenze vor der Küste von Lampedusa 368 Menschen. Kurz darauf startet Italien die Seenotrettungsmission Mare Nostrum (Unser Meer). Innerhalb eines Jahres werden mehr als 100.000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet.

Doch schon bald kippt die politische Stimmung. Zwar folgen neue Missionen, doch deren Schwerpunkt verschiebt sich: Immer häufiger geht es in der offiziellen Sprache darum, Schleuser aufzuspüren und die Außengrenzen zu sichern. Ab 2015 übernehmen daher zunehmend Nichtregierungsorganisationen die Seenotrettung.

Frontex im Mittelmeer – Grenzsicherung vor Rettung

Lisa Weiß, Korrespondentin für den Deutschlandfunk in Rom, beobachtet das schon seit Jahren. Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, überwache zwar mit Schiffen und Flugzeugen das Mittelmeer – der Fokus liege jedoch auf Grenzsicherung, nicht auf Seenotrettung. Zwar betone Frontex regelmäßig, man unterstütze auch bei Rettungseinsätzen, doch das sei nicht der eigentliche Auftrag.

"Frontex überwacht mit Schiffen und Flugzeugen das Mittelmeer, aber da geht es vorrangig ums Grenzensichern, nicht ums Menschenretten."
Lisa Weiß, Korrespondentin in Rom

In einer Recherche zu einem Bootsunglück im Juli habe Frontex der Journalistin mitgeteilt, man habe eine Rettungsinsel aus einem Flugzeug abgeworfen und die Bergung koordiniert. Eine zivile Seenotrettungsorganisation, die den Vorfall ebenfalls beobachtet habe, zeichne jedoch ein anderes Bild. Auf See stehe häufig Aussage gegen Aussage – und vieles bleibe unklar.

Italienische Behörden blockieren private Seenotrettung

Italien geht derzeit massiv gegen private Seenotretter vor. Unter der rechten Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist der Druck noch größer geworden. Nach jeder Rettung müssen die Schiffe in den Hafen zurückkehren, selbst wenn sie noch Kapazitäten haben, so Lisa Weiß. Oft werden sie dort wochenlang festgesetzt.

"Seenotrettungsschiffe müssen nach jeder Rettung zurück in den Hafen, auch wenn sie noch Platz für weitere Menschen in Seenot haben."
Lisa Weiß, Korrespondentin in Rom

Die Rückkehrpflicht nach jeder Rettung schränkt die Einsätze der NGOs stark ein. Zudem weisen italienische Behörden den Organisationen häufig weit entfernte Häfen im Norden zu, was tagelange Umwege bedeutet und wertvolle Rettungszeit kostet.

Nach geltendem Recht kann Italien Schiffe grundsätzlich festsetzen – etwa, wenn Sicherheitsmängel vorlägen oder Gesetze verletzt würden. In der Praxis landen viele Fälle vor Gericht. Oft entscheiden Gerichte, dass die Festsetzungen unrechtmäßig gewesen seien. Doch bis dahin bleiben die Schiffe blockiert und können niemanden retten, so unsere Korrespondentin.

Seenotretterin: "Wut als Antriebskraft"

Isabell Nohr ist Such- und Rettungskoordinatorin bei Sea-Watch. Sie erlebt die Behinderung der Seenotrettung hautnah auf dem Schiff Aurora. Die ständigen Hürden machen sie wütend, sagt sie. Doch genau diese Wut sei auch ihre Antriebskraft und gebe ihr Energie, weiterzumachen.

"Wut ist auch eine Emotion, die einem Energie gibt. Deswegen funktioniert es für mich am besten, hauptsächlich wütend zu sein."
Isabell Nohr, Sea Watch

Für Isabell ist Seenotrettung kein Job, sondern Überzeugung. Ihr Engagement begann 2015, als viele Menschen über die Balkanroute nach Europa kamen und an Grenzen festsaßen. Damals studierte sie Politik und Soziologie und suchte Wege, sich mit Geflüchteten zu solidarisieren. Aus dieser Arbeit an den Grenzen entwickelte sich schließlich ihr Einsatz in der Seenotrettung.

Seenotrettung – Mangelnde Kooperation mit den Behörden

Heute ist Isabell diejenige, die den Überblick behält: Sie koordiniert die siebenköpfige Crew der Aurora, wenn es ernst wird. Hinweise auf Boote in Seenot kommen oft von ihrem eigenen Aufklärungsflugzeug – manchmal sogar von Frontex. Die Kommunikation mit Behörden sei meist aber schwierig oder gar nicht möglich. Vor jedem Einsatz rüste die Crew das Schiff aus, informiere die Behörden und fahre los.

"Es war ein Riesensturm mit hohen Wellen. Als wir angekommen sind, waren zehn Menschen schon im Wasser. Wir haben alle Menschen aus geborgen."
Isabell Nohr, Sea Watch

Die Rettung könne oft zur Herausforderung werde – etwa bei schlechtem Wetter. Vor zwei Jahren habe ihre Crew im zentralen Mittelmeer bei starkem Sturm und meterhohen Wellen einen besonders schwierigen Einsatz erlebt. Zehn Menschen trieben im Wasser. Die Crew konnte alle retten. Später berichteten die insgesamt 40 Geretteten, sie seien seit zehn Tagen auf See gewesen – in einem kleinen Metallboot, das eher einer schwimmenden Badewanne glich.

Rettung im Funktionsmodus

Im Moment der Rettung sei sie völlig im Funktionsmodus. Gefühle kämen erst danach. Das Team werde psychologisch betreut, doch Isabell habe auch ihre eigene Methode, mit den Belastungen umzugehen: Sie schreibe nach jeder Rettung vor allem die schönen Momente auf – gemeinsame Tees, Musik oder lustige Situationen mit den Geretteten. Das Helfen in extremen Situationen erfordere, Freude bewusst zuzulassen.

"Wir brauchen wieder ein staatlich koordiniertes europäisches Rettungsprogramm im zentralen Mittelmeer und dazu Evakuierungsprogramme."
Isabell Nohr, Sea Watch

Wenn italienische Behörden ihnen Häfen zuweisen, die so weit entfernt liegen, dass sie mit Geretteten an Bord kaum erreichbar seien – für Isabell ist das kein Zufall. Sie spricht von gezielter Schikane – ein deutliches Signal, dass zivile Seenotrettung politisch unerwünscht sei.

Die Seenotretterin betont, dass sich die Situation ändern müsse. Europa brauche wieder ein staatlich koordiniertes Rettungsprogramm im zentralen Mittelmeer sowie Evakuierungen von Geflüchteten aus Tunesien, Libyen und anderen Regionen. Isabell wünscht sich, dass Europa nicht wegschaut, sondern aktiv Lösungen und Hilfe anbietet – die aus ihrer Sicht immer knapper werden.

Seerecht verpflichtet zur Rettung

In Deutschland wurden die Mittel für die Seenotrettung komplett gestrichen. Außenminister Johann Wadephul betont, die Politik solle verhindern, dass Menschen sich überhaupt auf den Weg über das Mittelmeer machen – durch Diplomatie, Grenzsicherung und die Bekämpfung von Schleusern.

Dennoch sterben weiterhin Menschen auf dem Mittelmeer. Laut der Internationalen Organisation für Migration sind seit 2014 über 32.000 Menschen verschwunden. Nach UN-Angaben wagten im vergangenen Jahr rund 145.000 Menschen die Überfahrt.

Nach Seerecht ist grundsätzlich jedes Schiff verpflichtet, Menschen in Seenot zu helfen. Das gilt unabhängig davon, ob das Schiff staatlich oder privat ist, ob die Crew die Menschen selbst sehe oder auf Anweisung einer Leitstelle rettet. Das Schiff und die Besatzung darf sich selbst ernsthaft aber nicht gefährden. Im Zweifel entscheidet der Kapitän.

"Jeder muss Menschen in Seenot helfen. Inwieweit das ein Staat tun muss, ist eine ganz andere Geschichte."
Lisa Weiß, Korrespondentin in Rom

Moralisch und praktisch ist das oft sehr kompliziert, so unsere Korrespondentin: Viele Menschen an Bord, Unsicherheit über Landnahmemöglichkeiten oder mögliche Festsetzungen erschweren die Entscheidung. Zudem dürfen Staaten einem Schiff grundsätzlich die Hafeneinfahrt verweigern. Prinzipiell aber muss jeder Menschen in Seenot helfen. "Inwieweit das auch ein Staat muss, ist eine andere Geschichte", so Lisa.

Seenotrettung – umstrittener Pulleffekt

Dafür braucht es den nötigen politischen Willen. Christopher Hein, Professor für Migration und Asylrecht an der Universität in Rom, beobachtet die aktuelle Lage im Mittelmeer seit Jahrzehnten. Er sagt, das Sterben auf dem Meer und das fehlende Handeln der EU sei unterlassene Hilfeleistung.

Eine drastische Einschätzung, findet Lisa. Ihrer Ansicht nach liegt der Fokus der EU längst auf Grenzsicherung statt auf dem Schutz von Menschenleben. Als Begründung heiße es oft, zivile oder staatliche Rettungseinsätze könnten mehr Menschen zur Flucht übers Meer verleiten. Der sogenannte Pulleffekt, also die Idee von Rettungstaxis, sei jedoch höchst umstritten.

Ihr habt Anregungen, Wünsche, Themenideen? Dann schreibt uns an unboxingnews@deutschlandradio.de

  • Unboxing News
  • Moderation: Nik Potthoff
  • Gesprächspartnerin: Lisa Weiß, Korrespondentin in Rom
  • Gesprächspartnerin: Isabell Nohr, Sea Watch