Aufgedrängte Küsse, Berührungen an Schenkeln und Po gegen ihren Willen: Sonja hat deswegen den Vorgesetzten einer Behindertenwerkstatt angezeigt. Aufgrund ihrer Behinderung gab es kein Verfahren. Werden Verbrechen an Menschen mit einer Behinderung seltener ernstgenommen und verfolgt?

Nach dem Vorwurf der sexuellen Belästigung in einer Behindertenwerkstatt hat die Berliner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen eingestellt. Grund: Eine Gutachterin hat entschieden, dass das Opfer Sonja (Name redaktionell geändert) wegen ihrer Lernschwierigkeiten nicht aussagefähig sei. Dagegen hat Sonja Beschwerde eingelegt.

"Ich bin mit einem Betreuer spazieren gegangen und der hat sich immer an der Bude zwei, drei Pullen Bier geholt und dann auch im Dienst getrunken, und das hat mir erst auch keiner geglaubt."
Alexandra über die Erfahrung, dass einem Niemand glaubt

Alexandra kennt das Gefühl von Hilflosigkeit in einer Betreuungssituation Sie wohnt in einer Wohngruppe der Lebenshilfe und hatte einen Betreuenden, der im Dienst öfter Alkohol getrunken hat. Als sie sich damit an ihr Umfeld wendet, um Hilfe zu bekommen, glaubt ihr keiner. Erst als andere Menschen ihre Aussage stützen, folgen Konsequenzen für die Betreuungsperson.

Strukturelle Diskriminierung bei Verbrechen an Menschen mit Behinderung

Udo Bernd Simon hat 18 Jahre lang in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigung und Behinderung gearbeitet. Mittlerweile ist er in Rente. Er berichtet, dass er häufiger Situationen mitbekommen hat, bei denen Opfer mit einer Behinderung weniger ernst genommen wurden.

"Die Leute, die in der (Behinderten-)Werkstatt arbeiten, die werden teilweise nicht für voll genommen, wenn sie Probleme haben."
Udo Bernd Simon, hat in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigung und Behinderung gearbeitet

Im deutschen Grundgesetz steht: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Aber der Zugang zu den Rechten scheint unterschiedlich zu sein für Menschen mit oder ohne Behinderung. Ricarda Kluge vom Bundesverband für Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe arbeitet in dem Projekt "Suse", dass sich für Gewaltschutz in Einrichtungen einsetzt. Sie sagt, dass es für Menschen mit Behinderung und Beeinträchtigungen auch Hürden im Justizsystem gibt.

Ableismus im deutschen Justizsystem

Hürden für Menschen mit Behinderung und Beeinträchtigung sind beispielsweise sehr hochschwellige Sprache in der Justiz oder Verfahren die sehr formalisiert und auch intransparent sind. Gleichzeitig gibt es neben strukturellen Problemen auch teilweise die Barriere Gewalt und Verbrechen überhaupt einschätzen zu können, erklärt Ricarca Kluge.

"Um Gewalt benennen zu können, muss ich erst mal selbst wissen und verstehen, dass meine Grenzen verletzt werden und das nicht okay ist."
Ricarca Kluge, Bundesverband für Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe

Für die Einschätzung durch die Betroffenen benötigt es: Informationen, Fortbildung, Auseinandersetzung – sowohl für die Menschen, die in den Einrichtungen leben, aber auch für die Mitarbeitenden, sagt Ricarda Klug. Außerdem müssten die zuständigen Personen im Justizsystem geschult werden, damit sie erkennen, was Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen in einem solchen Moment brauchen. Das ist vor allem bei den Vernehmungen wichtig, sagt Rechtsanwältin Ronska Grimm.

"Es braucht ein behindertenspezifisches Fachwissen, um eine Vernehmung so zu gestalten, dass die Person überhaupt erst in die Lage versetzt wird, eine gute Aussage zu machen."
Rechtsanwältin Ronska Grimm über die Barrieren im deutschen Justitzsystem

Die Vernehmung und die Umgebung der Vernehmung müssen auf die befragte Person angepasst werden. Passiert das nicht, ist das ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Denn: Menschen mit Behinderung müssen den gleichen Zugang zum Rechtssystem haben wie Menschen ohne Behinderung. Deswegen braucht es mehr Sachverständige mit behinderungsspezifischem Wissen, die auch Vorurteile erkennen, betont Ronska Grimm.

Es gibt Schutz-Konzepte und Schutz-Beauftragte, die Betroffenen helfen können. Aber auch eine Finanzierung ist nötig, denn nicht alle können sich so ein Verfahren leisten. Im Fall von Sonja haben Vereine und Verbände unterstützt, die Kosten zu decken.

Shownotes
Diskriminierung durch Justizsystem
Wenn Menschen mit Behinderung Opfer von Gewalt werden
vom 16. September 2024
Moderator: 
Markus Dichmann
Autorin: 
Ann-Kristin Pott