Nach den Erdbeben in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien steigt die Zahl der Opfer und Verletzten immer weiter. Erste internationale Hilfen kommen im Krisengebiet an – dazu zählt auch das Kriegsgebiet in Syrien, das teils ohnehin schon nicht mehr zu erreichen war.

Verheerend. Dieses Wort trifft es am besten. Seit etwa 900 Jahren hat es in dieser Region kein so starkes Erdbeben mehr gegeben. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind etwa 23 Millionen Menschen in Syrien und der Türkei von den Erdbeben betroffen. Die Suche nach Verschütteten geht ununterbrochen weiter. Die Rettungskräfte gehen jeder Spur nach: Immer wieder seien unter den Trümmern leise Stimmen zu hören – die Helfer finden viele Tote, aber auch noch Überlebende.

Amelie Fröhlich, Deutschlandfunk-Nova-Nachrichten (Das gesamte Gespräch vom 7. Februar hier hören.)
"Laut Geoforschungs-Zentrum Potsdam hat es in dem betroffenen Gebiet seit etwa 900 Jahren kein so großes Beben mehr gegeben."

In Syrien sind fünf Provinzen von dem Beben betroffen, berichtet die Journalistin und Syrienexpertin Kristin Helberg – vor allem die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes, die inzwischen unter der Kontrolle oppositioneller Extremisten steht. 60 Prozent der Menschen, die dort leben, sind Binnenvertriebene, das heißt, sie sind während des Krieges in den letzten Jahren bereits bis zu sieben Mal in ihrem eigenen Land vertrieben worden.

Sie haben in den vergangenen Jahren am meisten unter dem Krieg gelitten: Ihre Heimatorte wurden vom syrischen Regime und von Russland zerstört und die Menschen suchten im Grenzgebiet zur Türkei Schutz – genau dort, wo jetzt das Erdbeben besonders schlimm war.

Fünf Provinzen in Syrien betroffen

Schwer betroffen ist auch das vom Assad-Regime kontrollierte Gebiet rund um die Stadt Aleppo. Auch dort sind sehr viele Häuser eingestürzt, berichtet Kristin Helberg. Etwas weniger verheerend war das Beben in den drei Provinzen Latakia, Tartus und Hama, die ebenfalls unter Regimekontrolle stehen.

"Eigentlich trifft es in Syrien genau die Menschen, die schon in den vergangenen Jahren am meisten unter diesem Krieg gelitten haben – und die an der Grenze Schutz gesucht hatten."
Kristin Helberg, Journalistin und Syrienexpertin

An der syrisch-türkischen Grenze leben fast zwei Millionen Menschen in riesigen Camps – in provisorischen Zeltstädten. Diese Unterkünfte seien tatsächlich eine Art "Glück im Unglück“ gewesen, sagt Kristin Helberg.

Zeltstädte: Glück im Unglück

Denn ein Zelt könne zwar über einem zusammenbrechen, aber man stirbt nicht darunter wie unter einem Haus aus Steinen. Trotzdem bietet ein Zelt keinen Schutz vor Nässe und Kälte – in Nordsyrien herrschen gerade Temperaturen um den Gefrierpunkt.

Die Flüchtlingsunterkünfte, die in den letzten Jahren für die vielen Millionen Binnenvertriebenen errichtet wurden – einfache Behausungen aus Zement – sind sofort in sich zusammengebrochen. Und in Städten wie Aleppo, die über Jahre durch das syrische Regime und durch Russland bombardiert wurden, ist die Bausubstanz ohnehin sehr marode.

"Die Ersthelfer haben keine Räumfahrzeuge oder technischen Geräte. Sie graben stundenlang mit bloßen Händen, Schaufeln und Hämmern."
Kristin Helberg, Journalistin und Syrienexpertin

Genau wie in der Türkei sind in syrischen Orten und Städten Häuser und sogar vollständige Straßenzüge eingestürzt. Es sind ganze Siedlungen kollabiert und haben die Menschen unter sich begraben. Das Problem: Die Ersthelfer dort haben keine schweren Räumfahrzeuge, um die Verschütteten dort herauszuholen. Sie müssen mit einfachsten Hilfsmitteln, teils mit bloßen Händen graben.

Pure Verzweiflung

Es sei die pure Verzweiflung, sagt Kristin Helberg – und auch nach wie vor die Angst, dass weitere Häuser einstürzen. Deshalb bleiben viele Überlebende in den syrischen Gebieten draußen auf der Straße in der Kälte.

Die einzigen Rettungskräfte, die in der Provinz Idlib bisher helfen, sind die Weißhelme. Die private Zivilschutzorganisation von Freiwilligen und bezahlten Helfern arbeitet in den Teilen Syriens, die nicht von Assad kontrolliert werden – sie hat also viel Erfahrung mit der Suche nach Verschütteten durch die Bomben und Raketenangriffe des syrischen Regimes und Russlands. 2016 bekamen die Weißhelme den Alternativen Nobelpreis.

"Die einzigen Rettungskräfte, die in der Provinz Idlib bisher helfen, sind die Weißhelme – doch mit dem flächendeckenden Ausmaß sind sie überfordert."
Kristin Helberg, Journalistin und Syrienexpertin

Mit dem flächendeckenden Ausmaß der Naturkatastrophe seien die Weißhelme aber absolut überfordert. Sie flehen gerade die internationale Gemeinschaft an, Hebegeräte, Treibstoff und Krankenwagen zu liefern, sagt Kristin Helberg. Verletzte könnten oft nicht in Krankenhäuser gebracht werden. Und in den Krankenhäusern selbst fehlt es an Strom, die Notstromaggregate laufen nämlich mit Diesel – und der ist wegen des Kriegs in der Ukraine knapp und teuer.

Katastrophale Gesundheitsversorgung

Die Gesundheitsversorgung in der Provinz Idlib ist ohnehin schon sehr schlecht, weil Krankenhäuser und Gesundheitszentren in den letzten Jahren systematisch durch das Regime und durch Russland angegriffen wurden, sagt Kristin Helberg. Und jetzt? Jetzt lägen die Toten in den Krankenhäusern auf den Fluren und die Mitarbeitenden wüssten nicht, wohin mit den Menschen.

"In den Krankenhäusern liegen die Toten auf den Fluren und man weiß nicht, wohin damit."
Kristin Helberg, Journalistin und Syrienexpertin

Die Hälfte der Krankenhäuser in Idlib werde durch eine amerikanische Hilfsorganisation betrieben, sagt Kristin Helberg. Vier davon seien durch das Beben beschädigt worden, zwei mussten evakuiert werden. Um den Menschen zu helfen, sei dringend schweres Gerät notwendig. Es dorthin zu bringen, sei logistisch eigentlich möglich – und zwar über den türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa.

Das ist der einzige Übergang, den auch die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen noch nutzen können, um dort – ohne Zustimmung des Regimes in Damaskus – humanitäre Hilfe hinzubringen. Genau das müsste schnellstmöglich geschehen, sagt Kristin Helberg. Aber natürlich sei das schwierig, weil diese ganze Hilfe das Katastrophengebiet in der Türkei durchqueren muss.

Regime-Gebiete bekommen Hilfe

Sehr viele UN-Organisationen sitzen in Damaskus und versorgen die Regime-Gebiete bereits mit humanitärer Hilfe, sagt Kristin Helberg. Zudem habe Russland Katastrophenschutz-Hilfe angekündigt, auch der Iran will helfen, und die Vereinigten Arabischen Emirate haben bereits 13,6 Millionen Dollar Soforthilfe zugesagt.

"Syrien ist das korrupteste Land im Nahen Osten. Während die Menschen leiden, bereichert sich das Regime."
Kristin Helberg, Journalistin und Syrienexpertin

Assad versuche, sich als Retter und Landesvater zu inszenieren, der sich um sein Volk kümmert, so Kristin Helberg. Ein Großteil der Hilfen werde allerdings vom Regime vereinnahmt und dann an eigene Anhänger und Unterstützer verteilt. Transparency International hat Syrien gerade zum korruptesten Land im Nahen Osten erklärt.

Deshalb sei es so richtig und wichtig, die Nothilfe für die betroffenen Gebiete möglichst mit lokalen Organisationen abzuwickeln, die so weit wie möglich unabhängig vom Regime agieren.

Unser Aufmacherbild zeigt die Zerstörung eines Wohnhauses nach dem Erdbeben in Nordsyrien.

Shownotes
Naturkatastrophe in der Türkei und Syrien
Erdbeben: Wie die Nothilfe in Syrien ankommt
vom 07. Februar 2023
Moderation: 
Till Haase
Gesprächspartnerin: 
Kristin Helberg, Journalistin und Syrienexpertin