Niemand weiß, wie lange die US-Truppen den Flughafen in Kabul noch sichern werden. Solange das Zeitfenster noch offen ist, sollen so viele Ortskräfte wie möglich evakuiert werden. Doch wer gilt überhaupt als Ortskraft?
Die Bundesregierung spricht derzeit davon, dass bereits 1900 von insgesamt 2500 Ortskräften in Sicherheit gebracht wurden. Das klingt nach einer zuversichtlichen Quote. Der Soldat Markus Grotian, der sich mit einem Partnerschaftsnetzwerk für afghanische Helferinnen und Helfer engagiert, spricht sagt aber, dass noch viel mehr Ortskräfte mit Familienangehörigen vor Ort sind.
Wie kann es sein, dass die Angaben der Bundesregierung und die von Markus Grotian so weit auseinander liegen? Das kommt laut Klaus Remme aus dem Dlf-Hauptstadtstudio daher, dass die Definition der Bundesregierung, welche Menschen noch gerettet werden sollten, laut dem Partnerschaftsnetzwerk deutlich zu eng bemessen wurde. Es sei keine Frage, dass noch tausende von ehemaligen Helfern auf eine Evakuierung warteten.
"Es ist überhaupt keine Frage, dass noch tausende von Ortskräften in Kabul warten."
Eine Frage des Anstellungsverhältnisses
Es geht dabei auch um die Frage, ob die Helfer vor Ort direkt von der Bundesregierung beschäftigt wurden oder von Subunternehmern: Während Markus Grotian argumentiert, dass die Taliban nicht unterscheiden, in welchem Anstellungsverhältnis die Ortskräfte den Deutschen geholfen hätten, macht die Bundesregierung da durchaus einen Unterschied.
"Natürlich sagt ein Grotian da: Mein Gott, die Taliban machen doch keinen Unterschied, was für ein Vertragsverhältnis du mit den Deutschen hattest. Da bist du gleich gefährdet."
Die Bundesregierung sagt, dass die Zahlen deutlich unübersichtlicher werden würden, wenn auch die Subunternehmer und deren Beschäftigte einbezogen würden. Sicher sei, so Klaus Remme, dass der Kriterienkatalog in den vergangenen Monaten mehrfach verändert wurde und der Kreis dadurch größer geworden sei. Allerdings würden diese Kriterien durch die Ereignisse der vergangenen sieben Tage kaum noch eine Rolle spielen.
"Das Chaos regiert"
Es sei zudem schwer, derzeit überhaupt noch einen Überblick über die Situation zu behalten, meint Klaus Remme weiter: Es gebe Berichte, dass es selbst deutschen Staatsbürgerinnen- und Bürgern nicht gelinge, die Evakuierungsmaschinen am Flughafen zu erreichen.
"Wir hören ja Berichte, wo es selbst deutschen Staatsbürgern nicht gelingt am Flughafen in die für sie vorgesehenen Evakuierungsmaschinen zu kommen. Wie viel schwerer muss es dann Afghanen fallen, die eben keinen deutschen Reisepass haben."
Am Flughafen selbst herrsche regelrechtes Chaos, sagt Klaus Remme. Derzeit werde erst ausgeflogen und danach festgestellt, wer die evakuierten Personen seien und welche bürokratischen Formalitäten nötig seien. Afghanische Ortskräfte werden dann in Deutschland nach einem festgelegten Schlüssel auf die Bundesländer verteilt.
Bleibt der Flughafen in Kabul offen?
Wie es jetzt weitergeht, hänge davon ab, wie sich die Situation am Flughafen in Kabul entwickle. Der Befehlshaber der Deutschen, General Jens Arlt, berichtete in einem Briefing für die Journalistinnen und Journalisten, wie schwierig die Bedingungen vor Ort seien. Die Situation würde sich weiter zuspitzen, denn die Menschen hätten das Gefühl, die Zeit laufe ihnen davon. Im Endeffekt hängt auch vieles davon ab, wie lange die Amerikaner noch den Flughafen in Kabul sichern.
"Die Situation, dass die Amerikaner den Flughafen sichern – davon sind alle abhängig, die ausgeflogen werden sollen."
US-Präsident Joe Biden will seine Soldaten zumindest zu lange vor Ort lassen, bis alle eigenen Staatsbürgerinnen- und bürger ausgeflogen worden sind. Eine Garantie – selbst für die ehemaligen Helferinnen und Helfer der Amerikaner –, dass der Flughafen bis 31. August oder noch länger gehalten werde, gebe es nicht, meint Klaus Remme.