Die Verfassung der Türkei lässt sich indirekt auf den Militärputsch von 1980 zurückführen. Ihm gehen wirtschaftliche und politische Instabilität voraus. Zum Anlass nimmt General Evren am 12. September unter anderem ein Massaker an Aleviten in Çorum.
Seit Mitte der 1970er Jahre steckt die Türkei in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise. Ministerpräsident Bülent Ecevit von der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) wird vom Chef der Gerechtigkeitspartei Süleyman Demirel abgelöst. Der nimmt die ultra-nationalistische Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) als Koalitionspartner in die Regierung auf, muss aber bald das Amt wieder an seinen Vorgänger Ecevit abgeben, da es im Parlament Überläufer und Abweichler in den Regierungsfraktionen gibt.
Hyperinflation und Handelsdefizit
Ein Jahr später ist die Ausgangslage umgekehrt und Demirel stürzt wiederum Ecevit. In dieser Zeit weist die türkische Handelsbilanz ein Defizit von fünf Milliarden US-Dollar aus, die Inflation ist auf über 100 Prozent gestiegen und die Arbeitslosenquote erreicht zeitweise 15 Prozent.
"Man kann sagen, dass mit der Verfassung eigentlich alle politischen Rechte der Staatsbürger unter Vorbehalt gestellt worden sind."
Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die türkische Gesellschaft. Rechte und linke Gruppierungen liefern sich Straßenschlachten, bei denen im Laufe der Zeit mehr als 5.000 Menschen sterben. Das türkische Militär hält sich anfangs zurück, lässt dann aber unmissverständlich durchblicken, dass ein Eingreifen unmittelbar bevorsteht.
Ein Putsch im September
Die Anarchie werde "unter der vernichtenden Faust der türkischen Streitkräfte zerquetscht", lässt Generalstabschef Kenan Evren Anfang 1980 verkünden. Als es im Sommer 1980 zu vielen Mordanschlägen und einem Massaker an den Aleviten, einer schiitischen Glaubensrichtung des Islams, kommt, putscht das türkische Militär am 12. September 1980.
"In den ersten Monaten des Jahres 1980 wurden viele Mordanschläge verübt und im Juli 1980 gab es ein regelrechtes Massaker an den Aleviten."
Im Verlauf dieses Militärputsches wird die CHP, die Partei des Staatsgründers Kemal Atatürk, ebenso wie andere Parteien verboten. Von diesem Verbot erholt sich die heute dem sozialdemokratischen Lager zugerechnete CHP nur langsam. Angesichts starker Konkurrenz im politisch linken Lager schlägt die CHP zunächst eher nationalistische Töne an, bevor sie von 2010 an einen sozialdemokratischen Kurs einschlägt.
Derzeit ist die CHP wieder in Bedrängnis geraten, denn Präsident Erdogan fürchtet bei der kommenden Präsidentschaftswahl 2028 den populären CHP-Kandidaten und Oberbürgermeister von Ankara Ekrem İmamoğlu. Ihm werden Bestechung, Ausschreibungsmanipulation und die Unterstützung der PKK vorgeworfen. Er sitzt in Haft, ist aber von CHP trotzdem zum Spitzenkandidaten für die Wahl zum Staatspräsidenten gewählt worden.
Ihr hört in Eine Stunde History:
- Der Türkeiexperte und Soziologe Günter Seufert beschreibt den Militärputsch des Jahres 1980 und die Folgen für die Türkei.
- Der Baseler Historiker Maurus Reinkowski beschäftigt sich mit der CHP, die während des Putsches 1980 verboten wurde.
- Der Journalist Christian Buttkereit erläutert die Situation der CHP heute und den Versuch Erdogans, ihren Spitzenkandidaten Ekrem İmamoğlu politische auszuschalten.
- Deutschlandfunk-Nova-Geschichtsexperte Dr. Matthias von Hellfeld beschreibt die Lage der Türkei in den Jahren vor dem Militärputsch 1980.
- Deutschlandfunk Nova-Reporterin Christine Werner erinnert an den Tag des Putsches am 12. September 1980.
Unser Bild zeigt Panzer an einer Straße in den Tagen nach dem Putsch und Mitglieder der neuen Militärführung bei einer Kranzniederlegung am Grab von Kemal Atatürk in Ankara: Nurettin Ersin, Tahsin Sahinkaya, Admiral Nejat Tümer, Selat Celasum und Haydar Saltin (von links).
- Günther Seufert, Türkeiexperte und Soziologe
- Maurus Reinkowski, Historiker
- Christian Buttkereit, Journalist und ehemaliger ARD-Korrespondent für die Türkei
