In Deutschland wird fast jeden zweiten Tag eine Frau von ihrem Partner getötet. Bevor es dazu kommt, gibt es häufig Anzeichen: Das kann zum Beispiel physische Gewalt sein. Was tun, wenn wir Zeugin oder Zeuge von Gewalt in einer Partnerschaft werden?
Ein lautes Brüllen aus der Nachbarwohnung, ein Kreischen, ein Rumpeln und war das jetzt ein Schlag? – Es gibt Anzeichen, da drängt sich der Verdacht auf, dass etwa in der Nachbarwohnung ein Streit in Gewalt eskaliert. Was tun? Es ist eine komplizierte Situation mit vielen Facetten.
Nua Ursprung arbeitet für die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), die Beratung in solchen Fällen anbietet. Sie sagt, wir sollten nicht wegschauen. Einmischen: Ja, aber mit Fingerspitzengefühl.
Angemessene Hilfe leisten
Es ist wichtig, die Situation zunächst ein wenig einzuschätzen, sagt Nua Ursprung: "Was traue ich mir zu, was ist in der Situation angemessen?" Eine Sache sei jedoch klar: Wenn wir mitbekommen, dass jemand geschlagen wird, dann sollten wir auf jeden Fall die Polizei rufen. Denn dafür ist sie da. "Ich weiß, viele Leute haben Bammel, die Polizei zu rufen. Das ist superverständlich. Aber in Deutschland wird jeden zweiten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das heißt lieber einmal zu viel als einmal zu wenig anrufen", sagt sie.
"Wenn ich ganz konkret in dem Moment akute Gewalt mitkriege, also jemand wird jetzt geschlagen, dann bitte die Polizei rufen!"
Wenn wir eher die Vermutung haben, dass es in einer Partnerschaft nicht gut läuft und eventuell auch Gewalt im Spiel ist, dann rät Nua Ursprung von BIG einen Moment abzuwarten, in dem wir mit der betroffenen Frau (denn meistens sind die Opfer Frauen) alleine sind, um die Betroffene darauf anzusprechen, dass man sich Sorgen macht. "Man muss nicht gleich sagen, 'Hey, ich glaube, du erlebst Gewalt'. Das führt wahrscheinlich eher zu einer Abwehrreaktion. Aber man könnte sagen: 'Du, ich habe das Gefühl, dein Freund geht irgendwie uncool mit dir um, möchtest du mal darüber reden?'", sagt die Expertin.
Kontakt zu Betroffenen suchen
Bei Menschen, zu denen wir noch keine engere Beziehung haben, wäre dementsprechend der erste Schritt, eine Beziehung aufzubauen. Und das kann ganz klischeemäßig sein, dass wir zum Beispiel unter dem Vorwand klingeln, um nach etwas Zucker oder ähnlichem zu fragen. Im Zusammenhang mit so einem ersten Kontakt könnten wir vorschlagen, mal einen Kaffee zu trinken und so eine Beziehung aufzubauen. "Oder die andere Möglichkeit wäre, ohne in den direkten Kontakt zu gehen, zum Beispiel Plakate oder Flyer von Hilfsangeboten aufhängen im Hausflur", schlägt Nua vor.
"Die allerwichtigste Regel ist: Bring dich selbst nicht in Gefahr und bring auch die Betroffenen nicht in Gefahr."
Wichtig ist, dass wir bei unseren Aktionen darauf achten, weder uns selbst noch die Betroffenen in Gefahr zu bringen. Dazu gehört etwa auch, dass wir den Täter nicht direkt ansprechen, um ihn nicht zu provozieren. "Und idealerweise gucken, wie kann ich zu der Betroffenen Kontakt haben, ohne dass es später so aussieht, als ob sie mich auf ihn gehetzt hätte?", sagt Nua Ursprung. Wenn wir die Polizei anrufen, können wir übrigens auch bitten, anonym zu bleiben.
Die Expertin von BIG rät, dass wir zum Beispiel – in nicht akuten Situationen – bei einer Beratungsstelle anrufen können. Wir können so mit erfahrenen Menschen besprechen, wie die nächsten Schritte aussehen könnten, wenn wir Zeug*in von partnerschaftlicher Gewalt geworden sind.
"Einer unserer Slogans seit 30 Jahren ist: Häusliche Gewalt ist keine Privatsache."
Auf jeden Fall sollten wir uns nicht scheuen, etwas zu unternehmen – etwa weil wir das Gefühl haben, uns in fremde Angelegenheiten einzumischen. Nua Ursprung sagt, häusliche Gewalt ist keine Privatsache: "Dass ist keine Beziehungsdynamik, die irgendwie manchmal außer Kontrolle gerät, sondern häusliche Gewalt hat immer mit Macht und Kontrolle zu tun. Und es ist immer ein Symptom von gesellschaftlichen Machtstrukturen, also in dem Fall dem Patriarchat, das sich halt hier in einem privaten Raum äußert."