Der harte Lockdown ist da. Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut hat ihn schon länger gefordert. Die Physikerin ist davon überzeugt: Wir brauchen ein Verständnis dafür, wie wichtig niedrige Fallzahlen sind – in der Gesellschaft, aber auch in der Politik.

Für Viola Priesemann war der harte Lockdown längst überfällig. Gemeinsam mit über 30 Forschenden hat sie die entsprechenden Empfehlungen der Akademie der Wissenschaften Leopoldina an die Politik unterschrieben. Laut der Physikerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation müsse das Ziel sein, die Fallzahlen so gering wie möglich zu halten. Sie vergleicht das Virus mit einem Fußballspiel.

Der einzige Weg: Fallzahlen müssen unten bleiben

Der Kipppunkt, wie Viola Priesemann es nennt, sei Mitte September gewesen. Damals fingen die Todesfälle an zu steigen. Mancherorts, wie in Gütersloh, wurde lokal gegengesteuert. Das hätte aber viel intensiver und konsequenter überall in Deutschland, überall in Europa durchgezogen werden müssen.

"Mitte September sind mehr und mehr Personen erkrankt, die wahrscheinlich nicht wussten, dass sie das Virus in sich tragen. Sie haben dann Ältere und Risikopersonen angesteckt."
Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Viola Priesemann ist überzeugt: Der einzige Weg, um das Virus in den Griff zu bekommen, ist die Fallzahlen radikal zu senken und dann unten zu lassen. Erstens wird dadurch die Nachverfolgung für die Gesundheitsämter leichter. Zweitens brächte das die ersehnte Freiheit und Planbarkeit für die Menschen, Schule und die Wirtschaft mit sich. "Wenn die Fallzahlen niedrig sind, dann haben wir eine gute Kontrolle. Wenn die Fallzahlen hoch sind, gerät die Ausbreitung außer Kontrolle", fasst sie ihren Ansatz zusammen.

"Wir brauchen ein Verständnis dafür, dass niedrige Fallzahlen Vorteile haben, und zwar nicht nur für die Gesundheit und die Gesellschaft, sondern auch ganz klar für die Wirtschaft."
Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut kritisiert den späten Lockdown.

Beim Max-Planck-Institut untersucht Viola Priesemann die Mechanik der Pandemie mit Hilfe von Modellen. Sie vergleicht das Virus mit einem "absolut verrückten Fußballspiel". Jedes Mal, wenn die Virus-Mannschaft ein Tor schießt, bekommt sie bis zu drei zusätzliche Spieler. Wenn die Virus-Mannschaft klein ist, ist es kein Problem, sie aus dem Strafraum rauszuhalten. Ist die Virus-Mannschaft aber groß, kommt es zu einem sich selbst verstärkenden Wachstum. Ziel sei es, das Spiel gegen die Virus-Mannschaft nicht zu verlieren. Übertragen auf das reale Leben und die Inzidenz nennt die Physikerin den Wert 50 als Grenze.

"Wenn wir diese Grenze von 50 auch wirklich radikal respektieren, können wir am meisten Freiheiten und Kontakte haben. Im Idealfall haben wir dann auch keinen weiteren Lockdown."
Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Dass die Fallzahlen niedrig bleiben, dafür gäbe es aber keine Garantie. Vielmehr müsse nach Bedarf gehandelt werden und lokale Maßnahmen beschlossen werden. "Wenn wir sehen, dass die Fallzahlen steigen, kann man Warnungen aussprechen und Planen: Geht es in den nächsten zwei bis drei Wochen so weiter, muss ein kurzer lokaler Lockdown her.“

Eine Mischung aus AHA-Regeln und festen Kontakten

Ganz offen kritisiert sie die Politik, die ihrer Meinung nach zum großen Teil nicht verstanden hat, wie sich das Virus verbreitet: "Angela Merkel versteht die grundlegenden Mechanismen des Virus sehr gut, aber ich bin mir nicht sicher, ob alle Ministerpräsidenten das auch tun."

Wenn es um die Frage nach wirksamen Regeln geht, zeigt sich die Physikerin von den AHA-Maßnahmen, so viel Homeoffice wie möglich, konsequenten Tests und einer gewissenhaften Kontaktnachverfolgung überzeugt. Von radikalen Kontaktbeschränkungen hält sie nichts. Ja, in ihrem Model sei das die wirksamste Methode. Aber man müsse realistisch bleiben. Sie empfiehlt, den Kontakt auf ein bis zwei Haushalte zu beschränken. Dann könne man sich oft sehen, würde dem Virus aber trotzdem den Weg abschneiden.

"Wir sind soziale Wesen, wir brauchen andere Menschen."
Max-Planck-Expertin Viola Priesemann über radikale Kontaktbeschränkungen

Impfung ist kein Allheilmittel

Der möglicherweise kommende Impfstoff wird ihrer Einschätzung nach nicht viel an den bestehenden Maßgaben ändern. Das liege unter anderem daran, dass nicht klar sei, ob die Impfung die Krankheit stoppt oder den Verlauf milder macht. Zum anderen würde trotz Impfung der R-Wert, also die Anzahl der Menschen, die eine infizierte Person ansteckt, zu hoch bleiben. Das finale Ziel sei aber, dass der Wert so niedrig wie möglich wird. Mit der Impfung allein sei das nicht zu schaffen.

"Es ist völlig unklar, ob nach dem Impfstoff das Leben wieder so sein wird wie vor Covid."
Viola Priesemann über die Hoffnung auf den Impfstoff

Wie genau das geht, müsse jedes Land selbst für sich entscheiden. Dabei geht es beispielsweise auch um die Frage, wie viel Datenschutz aufgegeben werden sollte, um eine bessere Nachverfolgung des Virus zu erreichen.

Natürlich werden wir es in Europa im Gegensatz zu beispielsweise Neuseeland nicht so einfach haben, die Fallzahlen auf Null zu drücken, sagt Viola Priesemann. Allerdings hatten wir ja bereits im Sommer die Situation, dass in vielen Landkreisen über Tage hinweg keine Neuinfektionen aufgetreten sind. Sollte es also ganz Europa schaffen, die Fallzahlen niedrig zu halten, könnte Covid-19 regional sogar verschwinden.

Shownotes
Wissenschaftlerin zur Corona-Lage
"Die hohen Fallzahlen sind das Problem, nicht der Lockdown"
vom 16. Dezember 2020
Moderator: 
Thilo Jahn
Gesprächspartnerin: 
Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation