Lieschen Müller ist Unfallchirurgin. Eigentlich heißt sie anders, aber sie möchte ihren Namen nicht im Internet lesen. Sie hat das Buch "Oha, können Sie denn auch operieren?" geschrieben und einen kritischen Blick auf ihren Berufsalltag geworfen.
Ihr Arbeitsalltag ist extrem stressig, sagt Lieschen Müller, um sieben Uhr ist Schichtbeginn, dann geht es los – Visite, Versorgung von Patienten, Notfallaufnahme. Nachmittags gibt es dann so gegen 15 Uhr noch eine Besprechung und dann sollte eigentlich Feierabend sein. Ist es aber meistens nicht. Oft wird es 17 Uhr. Manchmal stehen auch noch Nachtschichten an.
"Je nach Organisation der Klinikstruktur sind das dann schon mal zwischen 18 und 24 Stunden."
An besonders stressigen Tagen müsse sie viele Dinge gleichzeitig erledigen. Während eines Aufklärungsgesprächs kommen etwa zwei weitere Leute rein und wollen irgendwas wissen, wo Müller bitte mit draufgucken soll. Das Telefon läutet dreimal und dann ruft auch noch der OP-Saal an und vermeldet: ‚Du hast noch fünf Minuten, dann geht es los!‘ In der Notaufnahme brauchen sie möglicherweise auch noch Unterstützung.
"Die fehlende Organisation und die strukturelle Unterbesetzung machen den Arbeitsalltag stressig."
Die körperliche Belastungsgrenze sei natürlich bei jeder Person unterschiedlich. Vor allem merke man die Überschreitung der Grenze nicht sofort, sondern das komme erst im Nachhinein, weil sie gar keine Zeit für die Reflexion habe – im Zuge dieser maximalen Arbeitsbelastung.
Chronischer Schlafmangel und die Unmöglichkeit, Pausen zu machen
Die Überforderung setze sich aus verschiedenen Faktoren zusammen, sagt Müller – chronischer Schlafmangel, dauerhafte Anwesenheit, die ständige Verfügbarkeit und die Unmöglichkeit im chirurgischen Alltag zu sagen: 'Ich bin die nächste halbe Stunde in der Pause. Ich bin nicht da.' Viele Kollegen würden komplett auf Pausen verzichten.
In der Unfallchirurgie kann ein Fehler schwerwiegende Folgen haben – eventuell den Tod von Patienten bedeuten. Lieschen Müller sagt, es sei allerdings schwer zu beurteilen, wie viele Fehler darauf zurückzuführen sind, dass ein Chirurg oder eine Chirurgin überlastet sei.
"Ob das immer schlussendlich auf die strukturellen Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist? Schwierig zu beurteilen. Aber sicherlich sind so Flüchtigkeitsfehler häufiger."
Für die Betreuung von Patienten bleibt bei dieser hohen Arbeitsbelastung nicht viel Zeit: zwei Stunden für die 40 Patienten, macht drei Minuten pro Patient. Und da ist jetzt noch kein Weg von Patient A zu B mit eingerechnet. In diesen Minuten muss Lieschen Müller Kurven überprüfen, schauen was für Medikamente die Patienten nehmen könnten, untersuchen, Verbandswechsel machen, Fäden ziehen oder Komplikationen aufdecken und behandeln.
Als Unfallchirurgin ist es schwierig, Familie und Beruf zu vereinbaren
Lieschen Müller sagt, sie habe ihren Job bisher nur deswegen machen können, weil sie einen Mann habe, der stark Rücksicht nimmt. Es gebe aber durchaus Ärztinnen, in ihrem Bekanntenkreis, die zum Beispiel mit mehreren Kindern alleinerziehend sind und trotzdem einen Vollzeitjob erledigen. "Das ist Höchstleistung!", sagt Müller.
"Die grapschenden Hände der Alkoholiker, die man behandelt. Damit weiß man umzugehen. Die Sache zwischen den Kollegen war tatsächlich neu für mich."
Neben der hohen Arbeitsbelastung und der Schwierigkeit, den Job und ein Familienleben unter einen Hut zu bekommen, spricht Lieschen Müller in ihrem Buch auch noch über ein anderes Thema: über Frauenfeindlichkeit – von Kollegenseite, von Vorgesetzten und auch von der Seite der Patienten. Für sie war es befremdlich, in einem Team mit Männern zu sitzen, die es gewohnt waren, untereinander ihre Pornovideos auszutauschen.
Was man nicht vergessen dürfe, gibt die Chirurgin zu bedenken, dass die leitenden Positionen von Oberarzt oder Chefarzt, in den allermeisten Fällen nach wie vor mit Männern besetzt sind. Ärzte, die in traditionellen Rollenbildern leben. Also Frauen haben, die mit den Kindern Zuhause sind.
"Das hab ich auch viel gehört: Man kann eben nicht beides – Operieren und Mutter sein. Wollen Sie sich nicht lieber einen Beruf aussuchen, der Frauen eher bevorzugt? Gehen Sie doch in die Anästhesie."
Die Ärztin sagt aber auch, dass sich in den letzten Jahren einiges verändert habe: "Am Anfang haben wir nach 24 Stunden Schichten am nächsten Tag noch die Visite gemacht. Da waren wir nach 30 Stunden Zuhause. Dass das in den meisten Kliniken nicht mehr möglich ist, ist schon mal ein sehr großer Fortschritt." Auch die Bundesvertretungen würden sich dafür einsetzen, dass die Belastung begrenzt wird. Und die strukturelle Erfassung der Arbeitszeiten bringe ebenfalls enorme Verbesserungen.