Jay und Laurenz sind nicht blutsverwandt, sie betrachten sich aber trotzdem als Familie. Beide bezeichnen sich als Chosen Family. Was diese für sie ausmacht, wie so eine ausgesuchte Familie entsteht und wie die Gesellschaft heute Familie definiert.
Es heißt oft: Familie sucht man sich nicht aus. Man muss mit ihr klarkommen, wie sie eben ist. Aber das ist nicht immer so. Denn in bestimmten Fällen, kann man sich Familie doch aussuchen. Vor allem, wenn man sich von seiner biologischen Familie entfernt. Dann kann eine "Chosen Family", also eine Wahl-Familie und ausgesuchte Gruppe von Menschen, Halt im Leben geben. Aber was macht diese Gruppe aus?
Wenn aus Freundschaft Familie wird
Jay, 38, und Laurenz, 23, sind füreinander Teil einer solchen Wahl-Familie. Sie gehören zu der gleichen Drag-Familie. Jay ist seiner biologischen Familie nicht mehr so nah, weil es unterschiedliche Ansichten über seine Queerness gibt.
Bei Laurenz ist das anders. Er bezeichnet seine Herkunftsfamilie auch als seine Chosen Family, weil er von seinen Verwandten so angenommen wird, wie er ist. Er ist aber auch froh, seine engen Freunde als Chosen Family zu haben. "Das queere Thema ist bei meiner eigentlichen Familie auch schwierig. Die können sich da nicht ganz hineinversetzen. Auch, wenn sie immer für mich da sind."
"Bei allen queeren Themen, bei denen meine biologische Familie mir nicht weiterhelfen kann, habe ich Menschen, die mich unterstützen."
Angefangen hat alles vor etwa drei Jahren mit einem gemeinsamen Brunch. Mehrere Mitglieder ihrer Drag-Familie waren mit dabei. Jay und Laurenz haben sich dort kennengelernt, direkt gut verstanden und dann immer wieder getroffen, z. B. auf Partys. Es gab auch einen "Special-Bonding-Moment" nach einem Event, erzählt Jay: "Da haben wir dann angefangen, über Instagram zu schreiben. Wir sind dann immer weiter zusammengewachsen und haben irgendwann gesagt: 'Ich adoptiere dich jetzt als meine Drag-Tochter.'"
Bedingungslose Hilfsbereitschaft
Jay schätzt an Laurenz, dass er sich immer bei ihm melden kann, wenn er Hilfe braucht: "Irgendwann war diese Hemmung weg, auch mitten in der Nacht zu schreiben: 'Hey du, kannst du mir da mal helfen.'" Jay findet, dass eine Chosen Family vor allem für queere Personen wie ihn eine wichtige Instanz ist.
"Dieses Gefühl: Ich mache was für dich, du machst was für mich – das ist irgendwann in Fleisch und Blut übergegangen."
Diversere Familienmodelle
Eine so enge Freundschaft wie die von Jay und Laurenz gibt es schon länger, sagt die Soziologin Julia Hahmann. Sie forscht unter anderem zu Freundschaften und alternativen Familienmodellen. "Ich habe viel zu Freundschaften von älteren Personen geforscht. Auch diese Personen berichten, dass sie beispielsweise eine lebenslange, sehr enge, freundschaftliche Beziehung haben, die eigentlich die Partnerschaft ersetzt."
Aus Sicht der Soziologin haben wir heutzutage aber noch mal einen anderen Fokus auf das Thema und sprechen anders darüber als früher.
"Wir haben gesellschaftlich eine höhere Akzeptanz, über unterschiedliche Variationen von Familien nachzudenken und die auch als Lebensentwürfe anzuerkennen."
"Diese Idee, dass Familie immer bedeutet, eine heterosexuelle Paarbeziehung zu haben, die auch notwendigerweise eine Ehe sein muss. Und nach der Eheschließung kommen dann Kinder. Dieses Erwartungshaltung hat sich vermindert", so Julia Hahmann. Stattdessen gebe es eine Diversität an Lebensentwürfen, zwischen kinderfreien Lebensentwürfen, Patchwork-Familien, Stieffamilien und auch sogenannten Wahlfamilien.
Vor dem Gesetz allerdings kommt die Wahlfamilie nicht an die biologische Familie heran. Die Herkunftsfamilie hat nämlich Vorrang, wenn es etwa um Formalien wie Notfallkontakte, Testamente oder Patient*innenverfügungen geht. Jay findet das schade.
"Laurenz ist unter meinen Top-10-Kontakten im Handy gespeichert. Meine Mutter ist zum Beispiel weiter hinten."
Wie sich Familie definiert
Jay und Laurenz sagen, dass sie Familie füreinander sind, auch wenn sie nicht blutsverwandt sind. Aber ist es am Ende nur diese Blutsverwandtschaft, die fehlt, um sich als Familie zu definieren?
Gesprächspartner*in und psychologische Psychotherapeut*in Nora Meier sagt, Familie kann unterschiedliche Bedeutungen haben: "Man kann das biologisch sehen: Leute, die genetisch miteinander verwandt sind. Man kann es juristisch sehen: Leute, die verheiratet sind oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft haben." Für Nora Meier zählt aber eben auch die soziologische Variante: Dass Menschen – egal ob sie einem Haushalt wohnen oder nicht – füreinander sorgen oder füreinander Verantwortung übernehmen.
Wann "Chosen Familiy" wichtig wird
Für Menschen haben ausgesuchte Familienmitglieder etwa im Freundeskreis eine größere Bedeutung, wenn die biologische Familie beispielsweise weit weg wohnt und es keinen gemeinsamen Alltag gibt, erklärt die Psychotherapeutin. Aber auch ein Kontaktabbruch mit der Herkunftsfamilie oder der Verlust von Familienmitgliedern kann dazu führen, dass Freund*innen wichtiger werden.
Nora Meier schließt aber auch nicht aus, dass Menschen beides haben können: eine Chosen Family und eine Herkunftsfamilie. Wer sich eine familiäre Beziehung zu einem Freund oder einer Freundin wünscht, der sollte sich auch mit dieser Person darüber austauschen, rät die Psychologin. "Ich möchte gerne, dass du dich um mich kümmerst, wenn ich krank bin. Kannst du dir das vorstellen? Oder: Ich möchte mich um dich kümmern. Darf ich?"
"Chosen Family kann was ganz Tolles sein. Aber man sollte es auch nicht als die Antwort auf alle Fragen sehen und wissen, worauf man sich einlässt."
Familie braucht Verbindlichkeit, Reden, Offenheit und Verzeihen, sagt Nora Meier. Egal in welcher Konstellation.
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