Neuinfektionen, Todesfälle, R- und Inzidenzwerte – im Zusammenhang mit dem Coronavirus bekommen wir täglich viele Zahlen um die Ohren gehauen. Rational wissen wir: Sie sind zu hoch. Ob uns die Zahlen emotional erreichen, erklärt Kognitionspsychologe Christian Stöcker.
Die Fall- und Todeszahlen haben einen bisherigen Höchststand erreicht (Stand: 17.12.2020), doch für viele bleiben sie immer noch abstrakt, meint Christian Stöcker. Das sei einerseits ein großes Glück, weil es bedeutet, dass die meisten Leute niemanden kennen, der selbst an Covid-19 erkrankt oder gar gestorben ist. Andererseits sei es fatal, weil Menschen schlussfolgern: Die Zahlen sind da, aber an meinem Leben ändert sich nichts.
"30.000 Neuinfektion – vor drei Monaten hätte uns das noch schockiert. Aber inzwischen gewöhnen wir uns langsam daran."
Corona-Zahlen sind einfacher zu kommunizieren als einzelne Schicksale
Trotzdem sei das Nennen der Zahlen wichtig, denn mit ihnen lässt sich das momentane Geschehen erklären. Und natürlich sei in der Pandemie das Wichtigste zu verhindern, dass Leute sterben oder bleibende Schäden davontragen, so Christian Stöcker. Die Zahlen schaffen es aber nicht, Bewusstsein dafür zu schaffen, wie sich das Virus auf das Leben der Menschen auswirkt. Der Kognitionspsychologe spricht sogar von einer "gewissen Scheu" in Gesellschaft und Politik, das Leid, das sich derzeit bei vielen Menschen abspielt, in allzu plastischer Weise zu thematisieren.
"Das tägliche Leid, das das Virus in Deutschland verursacht, wird auf eine sehr abstrakte Weise kommuniziert."
Um sein Argument zu verdeutlichen, erinnert er an die Debatte um die Flüchtlingskrise 2015. "Wir alle können uns an das erschütternde Bild von dem kleinen Jungen erinnern, der tot an einen Strand im Mittelmeer gespült wurde. Die meisten wussten schon vorher, wie viele Menschen bei ihrer Flucht über das Meer sterben, aber erst durch das veröffentlichte Bild hat sie das Ausmaß emotional erreicht."
Politik tut sich schwer mit Empathie
Über die Politik sagt Christian Stöcker, dass sie in einer Doppelrolle gefangen sei. Einerseits müsse sie mit Corona ein Mammutproblem lösen, andererseits sei sie auch immer im Wahlkampfmodus. Platz für einen wohlwollenden, freundlicheren Ton gebe es bisher nicht.
Neben der Frage, wie über das Leid der an Corona erkrankten Menschen gesprochen werden sollte, ist Christian Stöcker dafür, Menschen in den Fokus zu nehmen, die nicht an Corona erkrankt sind, denen die Auswirkungen der Pandemie aber dennoch zu schaffen machen.
"Auch unabhängig von Corona hat jeder das Recht zu sagen: Ich leide auch, und ich habe auch das Recht zu leiden."
Natürlich könne man selbst lernen, mit solchen Gefühlen umzugehen, zum Beispiel indem man Dinge macht, die einem guttun und sich um sich selbst kümmert. Christian Stöcker sieht es jedoch kritisch, dass es in Deutschland keine Strukturen gibt, die Menschen in schwierigen Situationen – bei Einsamkeit oder Krankheit – mental auffangen. "Das ist vielleicht auch eine Lehre, die wir aus dieser Pandemie ziehen sollten."
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