Tina K. leidet bis heute darunter, dass ihr Bruder Jonny Opfer brutaler Gewalt geworden ist und dabei starb. Ein traumatisches Erlebnis für sie. Wie Freunde in solchen Situationen helfen können, und wann professionelle Unterstützung notwendig ist.
Am 14. Oktober 2012 ist Jonny am Alexanderplatz in Berlin zu Tode gekommen. Er wollte einem betrunkenen Freund helfen und wurde dann von mehreren Tätern brutal angegriffen. Jonny starb später im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Für seine Schwester Tina K. ist es bis heute ein traumatisches Erlebnis, dass sie ihren Bruder auf diese Art verloren hat.
Trauma-Erfahrungen sind Teil unserer Gesellschaft
In Deutschland haben laut Robert-Koch-Institut zwei Drittel der befragten jungen Erwachsenen zwischen 18 und 31 Jahren schon mindestens ein belastendes, potenziell traumatisches Lebensereignis gehabt. Tina ist sehr dankbar, dass sie beim Verarbeiten ihres Traumas auf die Unterstützung ihrer Freunde und Freundinnen zählen kann.
"Es waren einfach Menschen, die da waren, die nicht gefragt haben, was ich brauche, sondern einfach entschieden haben."
Tina erinnert sich an eine Situation, zu der es in der Tatnacht kam, als ihr schwer verletzter Bruder bereits im Krankenhaus war: "Es war mit das Größte, als wir wussten, dass ich meinen Bruder nicht mehr mitnehmen kann, dass die ganzen Leute ins Krankenhaus gekommen sind. Normalerweise ist nur ein bestimmte Menge an Menschen erlaubt. Aber dass alle wirklich kommen durften."
Viele der Freunde haben sich im Krankenhaus von Jonny verabschiedet und sind danach zum Alexanderplatz gegangen, erzählt Tina. Einige sind später auch wieder zu Tina nach Hause gekommen, um für sie da zu sein. "Ich sehe die Gesichter und wenn ich bete, schicke ich ihnen Liebe. Aber ich glaube, sie wissen gar nicht, wie dankbar ich für diese Momente war."
Einige Freunde kommen und gehen
Tina hat im Laufe der Jahre festgestellt, dass nicht alle Freunde von damals noch heute an ihrer Seite sind. Aber das ist okay für sie. "Es gab immer so Phasen. Manchmal begleiten Freunde eine Station, manchmal begleiten sie mehrere Stationen und irgendwann steigt die Freundin dann aus, aus unterschiedlichen Gründen. Ich wertschätze trotzdem jede gute Tat und jeden Menschen, den ich auf diesem Weg kennenlernen durfte."
Enttäuscht über wenig Mitgefühl
Im Nachhinein erinnert sich Tina auch an Menschen, die ihr eher wenig Mitgefühl entgegengebracht haben. Das hat sich in bestimmten Nachrichten gezeigt, die sie erhielt. Tina hat sich auch gewundert, dass einige damals nicht zur Trauerfeier von Jonny gekommen sind. Andere wiederum haben eine Gegenleistung erwartet, dafür, dass sie Tina unterstützt haben.
"Wenn ich eine gute Tat gebe, dann möchte ich keine Gegenleistung. Für mich ist das bedingungslose Liebe."
Gesunder Umgang mit Traumata
Die Weltgesundheitsorganisation definiert ein psychisches Trauma als ein kurz oder langanhaltendes Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem eine tiefgreifende Verzweiflung hervorrufen würde. Wie gehen wir damit um?
Dazu gibt es verschiedene Untersuchungen. Auch Olga Klimecki, Neurowissenschaftlerin und Psychologin, hat dazu geforscht und sich vor allem die Frage gestellt: Wie können wir eine andere Person unterstützen, ohne selbst an diesem Mitleid auszubrennen?
Positive Emotionen statt Distanz
Der Ansatz von Olga Klimecki ist, den Fokus auf positive Emotionen zu lenken. Und das kann man durch meditationsbasierte Methoden schulen: "Dieser Ansatz war für mich so faszinierend, weil er anders ist als andere Emotionsregulationsstrategien, die man vielleicht in der Ausbildung lernt, wenn man Arzt oder Ärztin wird oder einen Pflegeberuf lernt. Da wird eher geraten: Distanzier dich doch von der Person und dem Problem."
Laut der Psychologin führt das allerdings eher dazu, dass man sozial auf Distanz geht. Viel wichtiger sei es, Mitgefühl zu zeigen.
"Das Mitgefühl hat den großen Vorteil, dass man persönlich und sozial dieser Person ganz nah bleiben kann.
"Man kann auch die negativen Emotionen der Person mit spüren. Man braucht sie gar nicht unterdrücken, sondern man kann zusätzlich dieses Gefühl von Wohlwollen und Fürsorge spüren", erklärt Olga Klimecki. Heißt: Durch Mitgefühlstraining lässt sich Wohlwollen und Fürsorglichkeit stärken.
Das zeige sich auch in den Gehirnfunktionen, sagt die Neurowissenschaftlerin: "Es werden Areale im Gehirn stärker aktiviert, die mit Gefühlen von Verbindung, Freundlichkeit und auch Belohnung einhergehen."
Die Welt ist nicht mehr wie vorher
Ihren Freunden und Freundinnen und auch ihr selbst hat es sehr viel gebracht, nach dem Tod von Jonny nicht alleine zu sein, erzählt Tina. Sie waren beispielsweise kurz nach der Tat täglich am Alexanderplatz. "Und so hatten wir alle eine Verbindung zu meinem Bruder und wir hatten eine Verbindung zueinander. Und sie kamen vorbei und haben Essen gemacht. Oder wir haben gemeinsam versucht, schöne Abende zu haben. Sie waren immer irgendwie da."
Trauma-Betroffene nicht überfordern
Tina sagt, dass mit ihren Freunden wenig über das Geschehene gesprochen hat, aber ihr dieses "Dasein" geholfen hat. Als schwierig empfindet es Tina dagegen, wenn Fragen aufkommen wie: Wie geht's dir? Was brauchst du? Aus ihrer Sicht ist die betroffene Person dadurch überfordert: Man weiß nicht, was man will und man weiß nicht, was man braucht. "Wenn so etwas passiert, bist du in so einem Paralleluniversum."
"Das hilft so viel: Blumen vorbeibringen oder einfach präsent sein. Und wenn die Person das gerade nicht will, einfach nur eine Nachricht schreiben: 'Ich bin da, wenn irgendwas ist.'"
Die eigene Welt ist nach einem traumatischen Erlebnis nicht mehr so, wie so vorher war, erzählt Tina. "Für mich ist es total weird zu sehen, dass Leute normal einkaufen gehen, normal lachen, normal leben. Und da ist es einfach wichtig, dass im Freundeskreis Liebe ist. Denn das ist es, was wir in dem Moment brauchen, weil wir so verletzt sind."
Einfühlsame Begleitung bei akuter Traumatisierung
Wie das enge Umfeld auf Menschen mit einem Trauma reagiert, ist wichtig. Allerdings gilt es zu unterscheiden, in welcher Phase sich Betroffene gerade befinden: "Wir müssen unterscheiden zwischen einer akuten Traumatisierung, also wenn ich gerade aus so einem Ereignis komme, oder diese längerfristigen, chronischen Folgen", sagt Maggie Schauer. Sie ist als Psychologin spezialisiert im Bereich von Traumafolgestörungen.
Handelt es sich um eine akute Traumatisierung, sei es wichtig, die Person zu beruhigen und dabei zu helfen, den Stress und den Blutdruck runterzufahren. "Was immer da hilft: Eine Decke, ein Tee, bei jemandem sein – oder auch nicht und der Person Platz geben, sie nicht bedrängen. Das heißt, im ersten Moment versuche ich gar nicht, in den Menschen zu dringen: 'Was hast du da jetzt genau erlebt?' Entscheidender sei es, der Person keine Gespräche aufzuzwingen und sie stattdessen einfühlsam zu begleiten.
"Einfach dabei sein, zuhören und beruhigen."
Auch einige Zeit nach dem traumatischen Erlebnis können Freunde eine wichtige Stütze sein, wenn Betroffene beispielsweise viel weinen oder schlecht schlafen. Auch da helfe es, weiterhin zu beruhigen und dabei zu sein, so Maggie Schauer.
"Wenn der Zustand der Betroffenen aber nicht nachlässt und sich chronifiziert, dann zeigen sich andere Symptome, andere Reaktionen. Ich beginne dann zum Beispiel, Angst vor diesem Zustand zu bekommen – oder Angst vor der Angst, wie wir sagen."
Das führe dazu, dass die Betroffene in ein Vermeiden kommen. "Sie wollen dann nicht mehr daran denken, nicht mehr darüber reden, sie wollen nicht mehr erinnert werden. Und je stärker diese Vermeidung in der Folge ist, umso wahrscheinlicher ist eine Chronifizierung." In so einem Fall sollte Freunde dem oder der Betroffenen helfen, darüber zu sprechen.
Wann professionelle Hilfe in Anspruch nehmen?
Die Frage ist, wann reichen Gespräche unter Freunden aus und wann ist professionelle Hilfe nötig? Maggie Schauer rät dazu, ein Traumascreening durchzuführen. Das kann Anhaltspunkte geben, wie sehr ein Erlebnis Betroffene belastet: "Das sind dann sechs bis acht Fragen. Und da kann ich gucken: Überschreitet die Betroffene Person eine Schwelle an Traumreaktionen?"
Bei Gesprächen mit Freunden sei es außerdem wichtig, auch mal Tränen von Trauma-Betroffenen auszuhalten, sagt die Psychotraumatologin. Kontraproduktiv sei es auch, jemanden zu drängen, der gar nicht erzählen will.
"Wir denken bei einem Gespräch: 'Oh, jetzt weint sie schon. Jetzt hören wir besser auf.' Das wäre ein Kunstfehler."
Jeder und jede muss für sich am Ende auch entscheiden, was auszuhalten ist und was nicht. Wer Betroffenen mit einem traumatischen Erlebnis helfen will, sollte sich auch selbst stabil fühlen. Und wenn das nicht der Fall ist, kann es auch eine Möglichkeit sein, gemeinsam Hilfe zu suchen.
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