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Die Historikerin Julia Hörath hat die systematische Entrechtung von Menschen erforscht, die vom NS-Regime als Verbrecher und Asoziale bezeichnet und deswegen verfolgt, misshandelt und auch ermordet wurden. Für diese Gruppe war es sehr schwierig, später an Entschädigungen zu kommen.

Wer in Deutschland ab 1933 wohnungslos war, gebettelt oder Abtreibungen vorgenommen hat, als Dieb, Prostituierte, Zuhälter oder Trinker aufgefallen war, konnte verhaftet und in Lager verschleppt werden. Wer diese Qualen überlebt hat, konnte auch nach 1945 nicht auf Entschädigung für das erlittene Unrecht hoffen.

"Wieder einmal verschwinden die als 'Asoziale' und 'Berufsverbrecher' in die KZs deportierten Menschen hinter der Chiffre 'andere Opfergruppen'."
Julia Hörath, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung
Sogenannte Stolpersteine zum Gedenken an die im Nationalsozialismus ermordeten Menschen, die als asozial verfolgt und ermordet wurden. Es sind die ersten Gedenksteine, mit denen dieser Opfergruppe des NS-Terrors gedacht wird.
© IMAGO | Christian Ditsch
Der Bildhauer Gunter Demnig verlegte am Donnerstag den 21. April 2016 auf dem Berliner Alexanderplatz sogenannte Stolpersteine zum Gedenken an die im Nationalsozialismus ermordeten Menschen, die als asozial verfolgt und ermordet wurden. Es sind die ersten Gedenksteine, mit denen dieser Opfergruppe des NS-Terrors gedacht wird.

Das, so Julia Hörath, liegt auch an den Kategorien, mit denen diese Menschen belegt wurden. Die Worte "asozial" und "Berufsverbrecher" transportieren ihren diskriminierenden Gehalt bis in unsere Gegenwart.

Die Historikerin erklärt, dass es bei diesen Verhaftungen und KZ-Einweisungen nicht darum ging, eine Straftat zu ahnden. In den meisten Fällen seien entsprechende Haftstrafen schon verbüßt gewesen. Die Verhafteten seien in rechtsstaatlicher Hinsicht demnach bereits rehabilitiert gewesen, als sie in sogenannte "Vorbeugungshaft" genommen wurden. Die Festnahmen wurden dann damit argumentiert, dass die "Volksgemeinschaft" vor ihnen "geschützt" werden müsse.

"Der bislang wichtigste Schritt in diesem Prozess ist sicher die am 13. Februar 2020 erfolgte Anerkennung der 'Asozialen' und 'Berufsverbrecher' als offizielle NS-Opfer durch den Deutschen Bundestag."
Julia Hörath, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung

Die Verfolgung dieser Gruppe setzt reichsweit ein, nachdem am 30. Januar 1933 Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennt. Zunächst regional und punktuell, wie bei der Razzia gegen Obdachlose am 3. Februar 1933 in Berlin oder bei der KZ-Einweisung von "asozialen Bettlern" am 18. Juli 1933 durch den Görlitzer Landrat.

Ab 1937/38 wird diese Verfolgung unter der Leitung des Reichskriminalhauptamtes systematisiert und ausgeweitet, wie in den Verhaftungswellen der sogenannten "Aktion Arbeitsscheu Reich" im April und Juni 1938.

KZ-Haft ist immer nationalsozialistisches Unrecht

Die Menschen, die diese Verfolgung überlebt haben, schweigen nach 1945 oft über das erlittene Unrecht oder über die Gründe für die Verschleppung ins KZ. Es gibt nur wenige Erinnerungsberichte dieser Opfergruppen, oft sprechen sie auch nicht mit ihren Familien darüber.

Opferverbände verweigern die Aufnahme

Sie erhalten weder Anerkennung noch Entschädigung. Die Versuche einiger dieser Verfolgten in Opferverbände aufgenommen zu werden, schlagen fehl. Sie werden weiter ausgegrenzt.

Julia Hörath zitiert aus einer Erklärung von politisch Verfolgten aus Hessen aus dem Jahr 1946: "Asoziale und kriminelle Elemente schädigen unser Ansehen. Wir haben es nicht verdient, dass man uns in einem Atemzug mit diesen Elementen nennt." Das bundesdeutsche Entschädigungsgesetz aus dem Jahr 1953 beschreibt ausschließlich die politische, religiöse, weltanschauliche oder rassische Verfolgung als NS-Unrecht.

Anerkennung erfolgt erst 75 Jahre später

Erst 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden die als "asozial" oder "Berufsverbrecher" verfolgten Menschen als NS-Opfer anerkannt. Erst im Januar 2023 organisieren sich die Opfer und deren Nachkommen in einem Verband.

Julia Hörath berichtet, dass auch die historische Forschung dieser Opfergruppe lange Zeit keine Beachtung geschenkt habe.

"Als ich 2005 begann, mich mit dem Thema zu befassen, wurde mir von allen Seiten abgeraten. Zum einen hieß es, es gebe da nichts mehr zu erforschen und zum anderen, weil man meinte, eine Dissertation zu diesem Thema sei gewissermaßen der Karrieretod."
Julia Hörath, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung

Inzwischen gibt es in einigen deutschen Städten Stolpersteine für die Menschen, die als "Asoziale" oder "Berufsverbrecher" verfolgt worden sind. Allerdings führen diese Verlegungen laut Julia Hörath häufiger zu Kontroversen: Was soll auf den Steinen stehen, als Verhaftungsgrund? Dieb? Unangepasstes Verhalten? Vorbeugungshaft?

Julia Hörath gliedert ihren Vortrag in dieser Reihenfolge:

  • Die Begriffe "Asoziale“ und "Berufsverbrecher“ als Verfolgungs- und Häftlingskategorien
  • Entwicklung der Verfolgung von "Asozialen" und "Berufsverbrechern" im Nationalsozialismus
  • Historiografie der Konzentrationslager und der Häftlingsgesellschaft
  • "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in der bundesdeutschen Erinnerungskultur

Der Vortrag

Julia Hörath ist Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung, sie hat zum Thema "'Asoziale' und 'Berufsverbrecher' in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938" promoviert. Sie sprach 2020 als bei einer Anhörung im Kulturausschuss des Bundestages zur Frage der Anerkennung dieser Opfergruppe..

Ihren Vortrag "Die nationalsozialistischen Verfolgung von 'Asozialen' und 'Berufsverbrechern'. Historiografie und Erinnerungskultur" hat sie am 2. Februar 2023 auf Einladung des Forschungskolloquiums zur Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus gehalten.

Empfehlungen aus dem Beitrag:
  • Seltener Erfahrungsbericht eines Betroffenen: Carl Schrade | die-verleugneten.de
  • Verfolgung von Familienmitgliedern recherchieren: Internationales Zentrum über NS-Opfer | arolsen-archives.org
  • Einigkeit über Anerkennung als NS-Opfer | bundestag.de
Shownotes
Langer Weg zur Anerkennung
Stigmatisierung und Verfolgung von "Asozialen" in der NS-Zeit
vom 06. April 2023
Moderation: 
Katja Weber
Vortragende: 
Julia Hörath, Historikerin, Hamburger Institut für Sozialforschung