Seit etwa einem Jahr leben wir mit einer Pandemie. Für die meisten von uns eine neue Erfahrung. Aber seit der Pest bis tief ins 20. Jahrhundert hinein gibt es bereits einige Erfahrungen im Umgang mit Seuchen, die vielfach in Vergessenheit geraten sind. Wie epidemische Krankheiten Gesellschaften und Räume gestalten, darüber spricht der Historiker Malte Thießen in seinem Vortrag.

Pest, Polio, spanische Grippe: Historisch betrachtet wissen wir als Gesellschaft einiges über Seuchen. Und doch war dieses Wissen lange Zeit kaum von öffentlichem Interesse.

Seit der Coronavirus-Pandemie rückt die geschichtswissenschaftliche Nische der Seuchengeschichte wieder in den Fokus. Denn: Seuchen sind nicht nur ein medizinisches oder virologisches Problem. Sie definieren ganze Gesellschaften, sagt Malte Thießen. Er begreift "Seuchen als die sozialsten aller Krankheiten".

"Seuchen machen Sündenböcke. Nicht nur Seuchen verstärken Stereotype, sondern auch umgekehrt: Stereotype verstärken unsere Ängste vor Seuchen."
Malte Thießen, Historiker

Laut Malte Thießen werden anhand von Seuchen Themen wie Identität, Zugehörigkeit und Fremdheit verhandelt. Mit der Pest wurden hunderte von Pogromen gegen Juden legitimiert. Und auch andere Epochen und andere Krankheiten bringen Stereotype hervor.

Seuchen - die sozialsten aller Krankheiten

Malte Thießen zitiert zahlreiche Beispiele von der vermeintlich "gelben Gefahr" des Coronavirus-Virus bis hin zu den vermeintlich "verantwortungslosen Jugendlichen" und deren angeblich sorglosem Umgang mit der Pandemie.

"Peter Gauweiler brachte die Stigmatisierung von Aids-Kranken im Interview mit dem Stern auf den Punkt: 'Ja mei, des sind halt Aussätzige.'"
Malte Thießen, Historiker

Malte Thießen bezieht sich auf den britischen Historiker Richard J. Evans, der 1987 in seinem Buch "Death in Hamburg" (dt. 1990 "Tod in Hamburg") die Geschichte der dort 1892 grassierenden Cholera-Epidemie analysiert hat. Richard J. Evans schreibt: "Die Cholera enthüllte und spiegelte Muster der Ungleichheit, die sich längerfristig auf Gesundheit und Krankheit und Leben und Tod auswirkten."

"Es bereitete keine Probleme zehntausende Saisonkräfte als Erntehelfer ins Land zu lassen. Spargel und Erdbeeren sind für uns offenbar kein Ausdruck der Globalisierung und ihrer Schattenseiten, und von daher auch keine Bedrohung."
Malte Thießen, Historiker

Malte Thießen zeigt auf, wie in Seuchen Raumkonzepte entwickelt und diese dann wiederum staatlich durchgesetzt werden. Gleichzeitig initiierten Seuchen einen internationalen Wettlauf um die "gesündere, bessere Gesellschaft". Er hat seinen Vortrag vor den deutschen Debatten um das Anti-Corona-Impfkonzept und die Impfmittel-Bestellung gehalten, aber sie bestätigen seine Ausführungen.

Der Vortrag

Malte Thießen leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte. Seinen Vortrag mit dem Titel "Corona, Pest und Cholera - Neue Erkenntnisse der Seuchengeschichte" hat er am 11. November 2020 im Heinz Nixdorf Museum auf Einladung des Museums und des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Paderborn gehalten.

Mehr zum Thema:

Was Impfgegner und Gegner von Impfgegnern wissen sollten | Vortrag von Cornelia Betsch, Heisenberg-Professorin für Gesundheitskommunikation an der Philosophischen Fakultät, Universität Erfurt

Shownotes
Pest und Cholera
Historiker Malte Thießen: "Seuchen machen Sündenböcke"
vom 23. Januar 2021
Moderatorin: 
Katja Weber
Vortragender: 
Malte Thießen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster