Nine ist 30 und Jungfrau. Sie wollte ganz bewusst noch nie Sex, fühlt aber Druck von außen und macht sich den auch selbst. Wie wir mit dem ersten Mal umgehen können, und warum Sexualität überhaupt so ein großes Thema ist in unserer Gesellschaft.
Wenn Nine anderen davon erzählt, dass sie mit 30 Jahren noch nie Sex hatte, dann sind viele überrascht: "Es wird mir häufig nicht geglaubt. Oder sie denken, ich verarsche sie. Und dann muss ich das immer weiter erklären und teilweise richtig darüber diskutieren. Vor allem auch mit Männern."
Nine wünscht sich, dass das Thema normaler wird und sie nicht mehr in Erklärungsnot kommt. Sie möchte nicht mehr als "anders" wahrgenommen werden, sondern echtes Interesse spüren.
Aktive Entscheidung gegen Sex
Nine sagt, dass es eine aktive Entscheidung ist, keinen Sex zu haben. Auch, wenn sie sich lange unsicher war: "Ich habe mich so viele Jahre gefragt, ob mich etwas blockiert. Ich rede auch über Intimitätsangst, was schon eine gewisse Rolle spielt. Gleichzeitig weiß ich aber auch, was ich nicht möchte. Ich kenne die Grenzen meines Körpers." Für Nine ist auch klar, sie möchte sich nicht dem Druck hingeben und etwas machen, nur weil man es gemacht haben muss.
Jede*r zehnte Ü21-Jährige ist nicht sexuell aktiv
Laut einer regelmäßigen Befragung des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) gibt etwa jeder zehnte erwachsene Mensch ab 22 Jahren an, nicht sexuell aktiv zu sein. Allerdings geht es in der Befragung nur um heterosexuelles Liebesleben.
Ein weiteres Ergebnis: Das Alter, in dem junge Menschen erste sexuelle Kontakte haben, ist immer weiter gesunken. Der Trend geht inzwischen aber wieder in die andere Richtung.
Warten auf den oder die Richtige*n
In Studien zu Sexualität bei jungen Menschen wird auch häufig gefragt, warum es noch nicht zum Geschlechtsverkehr kam. "Die häufigste Antwort ist, dass der oder die Richtige für mich noch nicht da war – und das nimmt zu", sagt der Sexual- und Kommunikationswissenschaftler Richard Lemke.
Er bemerkt aber auch einen generellen Wandel im öffentlichen Diskurs wenn es um das Thema Sex geht. Je offener darüber gesprochen wird, desto besser können Menschen, die sich beispielsweise gegen Sexualität entscheiden, das auch für sich annehmen, glaubt der Experte.
"Ich finde, für das Thema "keine Sexualität oder keinen Geschlechtsverkehr zu haben" gibt es immer mehr Raum – und damit fällt auch das Stigma ein bisschen."
Offener Umgang mit Sexualität nimmt Druck raus
Zu diesem Wandel trägt auch Nine bei, die offen über ihre Haltung zum Thema Sexualität spricht. Sie will zwar bewusst keinen Geschlechtsverkehr, hat aber schon sexuelle Erfahrungen gemacht – auch wenn das erst später kam.
Mit Mitte 20 hatte Nine ihren ersten Zungenkuss und dann kamen auch Pettingerfahrungen dazu: "Da ging es so ein bisschen bei mir los, dass ich dachte: Ich habe ja eine Libido. Ich merke, dass ich Lust drauf habe und ich fühle mich immer sicherer, weil ich das mit Leuten hatte, die Freunde von mir kannten. Und das hat mir ein gutes Gefühl gegeben."
Ich habe tatsächlich erst mit 25 meinen ersten Zungenkuss auf einer Party gehabt.
Als bei Nine aber gerade die Lust aufkam, Neues auszuprobieren, ging die Corona-Pandemie los und soziale Kontakte waren erst mal nicht mehr möglich. Mittlerweile ist es so, dass Nine gerne auf Partys rumknutscht: "Ich merke auch, wie ich mich immer wohler in meinem Körper fühle. Vor allem seit ich mich oute, offen damit umgehe und mich so akzeptiere wie ich bin, nimmt das so viel Druck von mir, dass ich mich immer weiter öffne."
Auch wenn Nine immer besser akzeptieren kann, dass andere in ihrem Alter andere sexuelle Erfahrungen haben – ganz egal ist es ihr nicht: "Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre immer fein damit. Dass ich immer diese selbstbewusste Haltung habe: Es ist mein Körper, mein Tempo. Das ist ein Auf und Ab. Aber ich zweifle nicht mehr an mir."
Das Thema "Sexualität" ist für viele aber auch mit Unsicherheit verbunden, weil es unterschiedliche Haltungen dazu gibt, was "Sex haben" ist und was "Jungfrau sein" eigentlich bedeutet.
Wann endet die Jungfräulichkeit?
"Ganz viele Menschen sind sich einig, dass das Ende der Jungfräulichkeit eingeläutet wird, wenn penetrativer Geschlechtsverkehr stattgefunden hat – und zwar zwischen einer Vagina und einem Penis. Dann bleibt aber die Frage offen: Was ist denn mit den Menschen, die nicht diese Art von Sex haben?", gibt die Sexologin Amelie Boehm zu bedenken.
Zu ihr in die Praxis kommen auch Menschen, die noch keinen penetrativen Geschlechtsverkehr hatten: "Das sind Menschen, die Mitte 20 oder 30 sind. Ich hatte auch schon 50-jährige Menschen bei mir, die noch jungfräulich sind und sich dafür schämen. Und wenn ich dann mal genauer nachfrage, gibt es bei dem ein oder anderen schon Erlebnisse, wo man sagen würde, das könnte man auch Sex nennen."
Auch Dating-Erfahrungen spielen eine Rolle
Aus Sicht der Sexologin haben nichtvorhandene sexuelle Erfahrungen auch damit zu tun, wie Leute daten: "Ich kann denen nicht immer so gut helfen, weil es oft schon damit zu tun hat, wie sie andere Menschen kennenlernen. Wie wohl sie sich damit fühlen, jemanden an sich ran zu lassen. Oder, wenn sie schon etwas älter sind, dann hat es vielleicht in der jungen Phase – wo die allermeisten Menschen sexuelle Erfahrungen machen – aus dem ein oder anderen Grund nicht geklappt mit der Nähe."
"Sie haben dieses Zeitfenster verpasst, wo alle das das erste Mal machen. Danach wird es schwieriger. Und irgendwann schämen sie sich dafür, dass sie noch keine sexuellen Erfahrungen gesammelt haben."
Bei vielen entwickelt sich dann ein Schamgefühl – und das hält Menschen davon ab, Dinge zu tun, die sie gerne machen würden, erklärt die Sexologin. Männer machen sich dann häufiger Gedanken über Erektionsprobleme und darüber, ob sie ein guter Liebhaber sind, so Amelie Boehm. Bei Frauen sei es eher die Sorge vor Schmerzen beim Sex.
Mythos: Das "Erste Mal" ist schmerzhaft
Gründe dafür sieht die Sexologin auch in der mangelnden Aufklärung: "Wir werden in der Schule oder durch unsere Eltern nicht so gut aufgeklärt was Sex angeht. Was sich so weiterträgt ist die Annahme, dass das erste Mal bei der Frau wehtun muss oder es sogar blutet."
Die Sexologin berät Menschen auch dabei, wie das erste Mal ein schönes Erlebnis werden kann. Allerdings spielt das nicht für alle eine Rolle, die zu ihr in die Praxis kommen. Manche möchten es auch einfach nur hinter sich bringen, um es gemacht zu haben.
Lernen, sich im eigenen Körper wohlzufühlen
Für Nine ist das keine Option. Viele junge Leute mit wenig oder ohne sexuelle Erfahrungen melden sich inzwischen auch bei ihr, um sich Tipps zu holen: "Ich habe viele mit Anfang 20, die mir schreiben und sich so viele Sorgen und Gedanken machen. Ich fühle das so sehr."
Mittlerweile sagt Nine über sich, dass sie ein tolles Leben hat und sich wohl in ihrem Körper fühlt: "Ich habe meine ganzen 20er damit verbracht, mich zu fragen: Warum bin ich so wie ich bin? Heute frage ich nur noch: Wie bin ich? Und damit lebe ich."
Hinweis: Auf dem Bild oben ist nicht Nine zu sehen, es ist ein Symbolbild.
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