Einsamkeit ist ein großes Problem unserer Zeit. Jeder zehnte Mensch zwischen 16 und 30 Jahren fühlt sich einer aktuellen Studie zufolge sehr einsam. Tim kennt das Gefühl und erzählt, wie er einen Weg aus der Einsamkeit heraus gefunden hat. Doch wie schaffen wir es als Gesellschaft dieses Problem zu lösen?
Auf die Frage "Wie geht’s dir?" mit "Ich bin einsam" zu antworten, erfordert Überwindung und Mut. Beides hat Tim aufgebracht und hat auf Youtube angefangen, offen über seine Einsamkeit zu sprechen. Doch die Rückmeldungen zeigten ihm: Einsamkeit betrifft nicht nur ihn selbst, sondern viele Menschen. Mehr als gedacht. Das belegen auch aktuelle Zahlen.
"Ich dachte, die Leute gucken mich an und denken, das ist der Loser, der einsame Trottel, der keine Freunde hat."
Laut Statistischem Bundesamt, das rund 20.000 Menschen befragt hat, gab jede sechste befragte Person an, sich oft einsam zu fühlen, sagt Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Anna Kohn.
"Umgerechnet sind in Deutschland 12,2 Millionen Menschen einsam. Das ist eine sehr, sehr hohe Zahl."
Die Ergebnisse zeigen außerdem: Anders als das Klischee vermuten lässt, ist Einsamkeit bei weitem kein Problem älterer Menschen. Einsamkeit kennt jeder und jede. Was Expert*innen und Politiker*innen zu erstaunen scheint: Besonders viele junge Menschen geben an, einsam zu sein. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums, dem Einsamkeit-Barometer, fühlen sich unter den 16 bis 30-Jährigen knapp die Hälfte fast immer einsam.
Einsamkeit: auch ein gesellschaftliches Problem
Was ebenfalls neu ist, ist das Interesse der Politik. Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat zur Aktionswoche gegen Einsamkeit aufgerufen, denn sie sagt: Es ist Zeit zu handeln. Als Grund für das hohe Einsamkeitsempfinden nennt sie die Nachwirkungen der Coronapandemie.
"Gerade junge Menschen, die in Coronazeiten beispielsweise das Studium begonnen haben, haben noch einmal eine ganz andere Herausforderung, auf andere Menschen zuzugehen."
Die gute Nachricht ist: Seit Corona ist das Einsamkeitsgefühl ein wenig zurückgegangen, aber es ist bei weitem höher als vor der Pandemie, sagt Anna Kohn. Sie hat mit der Bertelsmann Stiftung gesprochen, die ebenfalls aktuelle Erkenntnisse über Einsamkeit bei jungen Menschen haben. Corona ist mit Sicherheit ein Grund für das verbreitete Einsamkeitsempfinden, sagen die Studienmacher*innen. Auffällig sei aber, dass der Wert immer noch höher ist als vor der Pandemie. Die Forscher*innen erklären sich das mit dem allgemein vorherrschenden Krisenmodus in der Welt. Eine wirkliche Erklärung für die enorme Verbreitung der Einsamkeit haben sie aber nicht, fasst Anna Kohn zusammen.
"Einsamkeit ist nicht immer soziale Isolation, sondern auch ein Gefühl der Fremdheit."
Manchmal sind Menschen vielleicht sogar einsam, können es so aber gar nicht benennen. Bei Tim war es so. Er kannte zwar die Einsamkeit, die sich einstellt, wenn man selbst gerne Menschen treffen würde, aber die anderen keine Zeit haben, erzählt er. Doch Tim stellte auch fest, dass er sich mitunter inmitten von Menschen, sogar in einer Menschenmenge einsam fühlte. "Es ist das Gefühl, fremd oder anders zu sein, irgendwie nicht zugehörig." Und dieses Gefühl kennt Tim bereits aus seiner Kindheit. Es begegnete ihm auch in seinem Job als Fotograf. Irgendwann mündete es in Panikattacken und Angstzuständen.
Was Tim beschreibt, deckt sich mit der Definition von Einsamkeit, die die Psychotherapeutin Franca Cerutti gibt. "Menschen fühlen sich einsam, wenn sie entweder weniger Beziehungen haben, als sie gerne hätten. Oder wenn sie zwar Beziehungen haben, die aber eine bestimmte Qualität unterlaufen." Mit anderen Worten, das menschliche Grundbedürfnis nicht gesehen oder sich mit anderen Menschen nicht verbunden zu fühlen, ist nicht erfüllt.
Einsamkeit: Ein Gefühl, für das es viele Auslöser gibt
Franca Cerutti betont, dass Einsamkeit ein sehr individuelles Gefühl ist, für das es zig Auslöser gibt. Wenn man sich das bewusst macht, wird vielleicht auch klar, warum so viele Menschen Einsamkeit kennen.
Wir können in Einsamkeit "reinrutschen", weil sich unsere Lebensumstände verändern, beispielsweise wenn wir in eine Stadt ziehen und noch keinen Anschluss haben, zählt Franca Cerutti auf. Die Forschung zeigt, dass häufig Menschen einsam sind, die durch Care-Arbeit sehr eingespannt und damit auf eine gewisse Weise isoliert sind. Das gilt auch für Arbeitslose: Denn Arbeitsleben bedeutet auch Sozialleben. Und es bedeutet, dass wir Geld verdienen und uns leisten können, auszugehen. Fakt ist nämlich auch: Armut verstärkt das Einsamkeitsrisiko. Genauso wie Krankheiten. Und Migration. Wer die Sprache nicht kennt, findet weniger Kontakte. Rassismus führt notgedrungen zu Ausgrenzung, das Risiko für Einsamkeit liegt auf der Hand, so Franca Cerutti.
Was mich hoffnungsvoll stimmt, sagt Franca Cerutti, ist, dass das Thema in der Politik angekommen ist. Wer aber ganz praktische Lösungsansätze bietet, das seien Ehrenamtler*innen. Ob gemeinsame Spaziergänge in der Stadt, offene Tischtennisgruppen oder Angebote für Telefonfreundschaften, das Angebot ist wirklich riesig, sagt die Psychotherapeutin.
Wer auch ein Projekt über und gegen Einsamkeit gestartet hat, ist Tim. Nachdem er seine Einsamkeit besser kennengelernt hat und Strategien entwickelt hat, mit dem Gefühl zurechtzukommen, fing er an, in seiner Heimatstadt Bochum öffentlich darüber zu sprechen. "Einsamkeit ist ein Tabuthema, vor allem unter Männern", sagt er. "Das möchte ich ändern."
"Ein Symptom von Einsamkeit ist, dass man grundsätzlich denkt, es liegt an einem selbst."
Im Rahmen des Projekts "eigen. Von Einsam- und Gemeinsamkeiten", das er gemeinsam mit einer Freundin betreibt, war Tim neulich auf einer Einsamkeitskonferenz. Und ausgerechnet da überkam sie ihn: die Einsamkeit. "Ich habe mich komplett fremd gefühlt", erzählt er. "Das ist ganz schön ironisch gewesen." Am Ende sprach Tim bei der Konferenz ganz offen über sein momentanes Gefühl. Er zeigte sich verletzlich und menschlich. Denn genau das ist doch Einsamkeit: ein zutiefst menschliches Gefühl.
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