Vor fünf Jahren hat ein rechtsextremer Attentäter neun Menschen in Hanau erschossen. Hat der Anschlag unsere Gesellschaft nachhaltig verändert? Und wie sicher fühlen sich Menschen mit Migrationsgeschichte heute, kurz vor der Bundestagswahl?
Kaloyan Velkov, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Hamza Kurtović und Ferhat Unvar – das sind die Namen der Opfer, die ein 43 Jahre alter Deutscher am 19. Februar 2020 aus rassistischen Motiven an mehreren Tatorten in Hanau erschossen hat. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst.
Hanau: Es fühlt sich wie gestern an
Nach dem Anschlag gründeten Überlebenden und Angehörige der Opfer die Initiative 19. Februar Hanau. Sie bietet einen Raum für Austausch, Unterstützung oder ist einfach ein Ort, um nicht alleine zu sein. Nicht nur die Trauer kostet den Angehörigen viel Kraft, es ist auch der fortwährende Kampf um das Gedenken und gegen das Vergessen fünf Jahre nach dem Anschlag.
Newroz Duman ist Sprecherin der Initiative. Wut, Trauer und Verzweiflung – für Überlebende und Angehörige sei jeder Tag der 19. Oktober. Die fünf Jahre, die vergangen sind, machen klar, wie lange der Kampf um Gerechtigkeit dauert – ohne, dass es spürbare Konsequenzen geben würde, sagt sie.
"Für die Angehörigen ist jeder Tag 19. Oktober. Diese fünf Jahre erinnert uns immer wieder daran, dass der Kampf um Gerechtigkeit einfach unfassbar lange dauert."
Ein zentrales Ziel der Initiative ist es, die Tat vollkommen aufzuklären: Warum war der Notausgang an einem der Tatorte verschlossen? Opfer hätten sich sonst vielleicht retten können. Warum war der Notruf in der Tatnacht unterbesetzt? Notrufe sind teilweise nicht durchgekommen oder niemand ist rangegangen. Die Initiative erwirkte einen Untersuchungsausschuss, der 2023 Behördenfehler feststellte. Doch den Angehörigen reicht das nicht – sie fordern Konsequenzen.
Hetze, Rassismus und Spaltung prägen das Land
Wer aus Hanau, Halle, München, dem NSU und anderen Anschlägen lernen will, muss bei den Sicherheitsbehörden und in der Gesellschaft ansetzen, meint Newroz Duman. Die Politik dürfe nicht weiter hetzen oder die Sprache der Rechten übernehmen – sie ebne ihnen sonst den Weg.
"Die Politik muss aufhören zu hetzen. Sie muss aufhören, die Sprache der Rechten zu benutzen, so machen sie für die Rechten den Weg frei."
Der fünfte Jahrestag des Anschlags in Hanau fällt in die letzten Tage des Bundestagswahlkampfs, in dem Migration ein zentrales Thema ist. Newroz Duman sieht hierzulande eine Stimmung voller Hetze, Rassismus und Spaltung. Die Sprache der Rechten stelle Menschen unter Generalverdacht, die Migranten entrechtet und entmenschlicht, sagt sie. Eine solche Atmosphäre habe auch zu Hanau geführt.
Deshalb ist es ihr und der Initiative wichtig, die Tat voll aufzuklären und gegen Rassismus in der Gesellschaft zu kämpfen. Newroz betont, dass durch die Arbeit der Initiative und der Angehörigen einiges erreicht wurde – eine starke Vernetzung der Angehörigen, anhaltende Solidarität und eine lebendige Erinnerung. Über 100 Städte und Dörfer hätten sich für Gedenkveranstaltungen gemeldet. Auch in der Zivilgesellschaft und den Medien habe sich etwas verändert. Letztere hätten endlich begonnen, die Namen der Opfer zu lernen.
Hanau: Es sind nicht nur Menschen gestorben
Cihan Sinanoğlu ist Leiter des nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors am Deutschen Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung. Er erinnert sich noch genau an den Moment des Anschlags – an die Trauer und Ohnmacht. Sofort habe er verstanden, dass nicht nur neun Menschen getötet wurden, sondern auch eine Botschaft dahinterstand. Er, seine Familie, Freunde und alle, die rassistische Zuschreibungen erleben, waren mitgemeint, sagt er. Dies erschütterte ihn persönlich und war zugleich ein Moment der Politisierung.
"Es sind nicht nur neun Menschen gestorben. Für mich war klar, ich war damit auch gemeint, meine Eltern , meine Großeltern, meine Freunde, meine Bekannten."
Ereignisse wie Hanau mache etwas mit Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben und mit dem Sicherheitsgefühl in diesem Land. Sie erzeugen Ängste und sorgen für einen Vertrauensverlust in die gesellschaftlichen Institutionen, in die Demokratie, in die Justiz, in die Polizei, so Cihan.
Umfrage: Mehrheit der Menschen haben Rassismuserfahrung
Cihan sieht Rassismus als ein gesellschaftliches Problem, das von Ausgrenzung bis hin zu Gewalt und Anschlägen führen kann. In einer von Migration geprägten Gesellschaft betrifft Rassismus nicht nur einzelne, sondern alle Menschen – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Es sei kein Randphänomen, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Eine Umfrage des Deutschen Zentrums für Migrations- und Integrationsforschung nach Hanau zeigt, dass 90 Prozent der Befragten Rassismus als gesellschaftliches Problem sehen. Zwei Drittel hätten direkte oder indirekte Rassismuserfahrungen gemacht. Indirekt bedeutet, rassistische Vorfälle beobachtet zu haben. Das zeigt, dass Rassismus kein Randphänomen ist – ein klarer Auftrag an die Politik, das Problem ernst zu nehmen, meint Cihan.
Rassistische Gewalt passiert nicht im luftleeren Raum
Im Kontext des aktuellen Bundestagswahlkampfs, in dem die Themen Asyl und Migration dominieren, stellt sich die Frage, ob Hanau eine Zäsur war. Vor dem Hintergrund heutiger, oft rassistischer Debatten, ist das für Cihan nicht der Fall. Politik und Gesellschaft hätten den Anschlag weitgehend vergessen. Rassistische Gewalt entstehe nicht im luftleeren Raum, sondern werde durch gesellschaftliche Diskurse begünstigt – ein Zeichen, dass wenig aus Hanau gelernt wurde.
"Wenn wir über Migration sprechen, sprechen wir über Kriminalität, über Terror, über Islam und so weiter. Das ist quasi ein Indiz dafür, dass Hanau im Grunde vergessen wurde."
Nach Hanau habe es zwar Fortschritte gegeben, so wurde durch Druck der Zivilgesellschaft ein Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus unter Angela Merkel gebildet. Eine Zeit lang wurde über Rassismus gesprochen, doch heute werden diese Errungenschaften rückgängig gemacht, mein Cihan. Migration werde in den aktuellen Debatten mit Kriminalität und Terror verknüpft – ein Zeichen, dass Hanau weitgehend vergessen wurde. Das zeige sich auch im Anstieg rechtsextremer Straftaten.
Die nächste Bundesregierung müsse Rassismus auf höchster politischer Ebene thematisieren und in alle Entscheidungen einbeziehen. Wichtig sind faktenbasierte Debatten und eine verantwortungsbewusste Sprache. Rassismus bedroht nicht nur Demokratie und Zusammenhalt, sondern auch den wirtschaftlichen Wohlstand – etwa durch Fachkräfte, die Deutschland wegen Diskriminierung wieder verlassen.
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