Der amtierende türkische Präsident Erdogan bleibt weitere fünf Jahre im Amt. Die große Mehrheit der auch in der Türkei wahlberechtigten Türkischstämmigen in Deutschland hat für ihn gestimmt. Was das bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Am Wochenende gab es in vielen deutschen Städten Autokorsos und Jubelfeiern, bei denen Türkeiflaggen geschwenkt wurden. 67 Prozent der Türkischstämmigen in Deutschland, die in der Türkei wählen dürfen (und das auch getan haben, etwas mehr als die Hälfte), haben für Präsident Recep Tayyip Erdogan gestimmt.

Karin Senz, ARD-Korrespondentin in der Türkei
"Die Türkei feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag – 20 Jahre davon, ein Fünftel, hat Erdogan geprägt."

Die Feierlichkeiten in Deutschland haben zu einer politischen Diskussion geführt, was diese Zustimmung über unsere türkischstämmigen Mitbürger*innen aussagt. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen hat unter anderem per Twitter harte Kritik geäußert und von einer "Absage an unsere pluralistische Demokratie" gesprochen.

Auch im Interview beim Deutschlandfunk plädierte Özdemir dafür, klare Ansagen zu machen. Er sagte, es gebe große Enttäuschungen bei den Türkinnen und Türken in der Türkei, die gar nicht verstehen, warum die Zustimmung in Deutschland zu Erdogan so groß ist.

Klare Worte von Cem Özdemir

Die Oppositionsanhänger*innen in der Türkei müssten den Preis zahlen in einem Land, das unter einer hohen Inflation und unter Demokratieabbau leidet, während gleichzeitig die Türkinnen und Türken in Deutschland die Früchte der deutschen Demokratie und des deutschen Wohlstands unbeschwert genießen können. So fasst Stephan Detjen aus dem Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio Özdemirs Position zusammen.

Es sei sehr interessant, welche Diskussion der Bundeswirtschaftsminister damit ausgelöst hat – von manchen deutsch-türkischen Politikerinnen und Politikern bekomme er nämlich Widerspruch, berichtet Stephan Detjen. So pauschal wie Özdemir könne man das nicht ausdrücken, sagt zum Beispiel die deutsch-türkische CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler.

"Serap Güler weißt darauf hin, dass bei den türkischen Wählerinnen und Wählern in Deutschland viele Frustrationen unterwegs sind."
Stephan Detjen, Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio

Bei den türkischen Wählerinnen und Wählern in Deutschland gebe es viel Frust. Laut Serap Güler weisen die Menschen zurecht darauf hin, dass manche Kritik an der AKP und an der Türkei in Deutschland überzogen sei.

Frust- und Trotzreaktion?

Ähnlich beschreibt das der deutsch-türkische SPD-Abgeordnete Hakan Demir aus Berlin Neukölln. Er spricht von Trotz- und Frustreaktionen und weist darauf hin, dass bei diesen Menschen oft Diskriminierungserfahrungen hinter der Wahlentscheidung stehen, berichtet Stephan Detjen. Demir schlage auch direkt den Bogen und fordere eine Veränderung des Einbürgerungsrechts: Demnach müssten die türkischstämmigen Menschen in Deutschland schneller eingebürgert werden, damit sie Loyalitäten entwickeln, in Deutschland zur Wahl gehen und dann vielleicht auch anders wählen.

In Deutschland gebe es allen Anlass zu schauen, um welche Wählergruppen es sich bei den Erdogan-Unterstützer*innen handelt, sagt Stephan Detjen. Und welche Botschaften dort ausgesandt werden - insbesondere von den jüngeren Türkinnen und Türken, die auf die Straße gegangen sind.

"Es bleibt - das haben mir alle gesagt - befremdlich, diese Ausbrüche eines sehr nationalistisch daherkommenden türkischen Patriotismus in Deutschland zu sehen."
Stephan Detjen, Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio

Wenn die Opposition die Stichwahl gewonnen hätte, dann hätten wir auch solche Siegesfeiern in Deutschland gesehen, hat Gökay Sofuoğlu, der Vorsitzende der nicht-konfessionellen und überparteilichen "Türkischen Gemeinde in Deutschland", Stephan Detjen am Wochenende gesagt.

1,5 Millionen Türkinnen und Türken in Deutschland waren zur Wahl aufgerufen. Die erhöhte Wahlbeteiligung von etwas mehr als der Hälfte dieser Menschen hat sich aber nicht zugunsten der Opposition, sondern zugunsten von Amtsinhaber Erdogan ausgewirkt.

Shownotes
Nach der Stichwahl in der Türkei
Diskussion über Pro-Erdogan-Stimmung in Deutschland
vom 30. Mai 2023
Moderation: 
Till Haase
Gesprächspartner: 
Stephan Detjen, Deutschlandfunk-Hauptstadtstudio