Grippe, Schnupfen, Corona. Es gibt genug Gründe, zu Hause im Bett zu bleiben, um sich von einer Erkrankung zu erholen. Die Mehrheit der Deutschen sieht das aber laut einer repräsentativen Studie einer Krankenkasse anders.

Die Betriebskrankenkasse Pronova BKK hat die Studie noch nicht veröffentlicht. Deren Ergebnisse liegen aber Deutschlandfunk-Nova-Reporter Mathias von Lieben bereits vor. Demnach bleiben nur 28 Prozent der Befragten zu Hause, um eine Krankheit auszukurieren.

Neun Prozent gehen weiterhin zur Arbeit, 17 Prozent machen Homeoffice und weitere 17 Prozent kehren nach ein paar Tagen zurück zum Arbeitsplatz – sobald die Symptome etwas abgeklungen sind. Laut der Studienergebnisse leidet eine große Mehrheit der Beschäftigten auch unter Stress wegen Überstunden, Termindruck oder ständiger Erreichbarkeit.

Weiterhin geht aus der Studie hervor, dass jede*r Zehnte sogar mit einem positiven Corona-Test – bei mildem Verlauf – zur Arbeit geht. Den Arbeits- und Gesundheitspsychologe Tim Hagemann wundern die Ergebnisse nicht.

"Insgesamt kann man das Phänomen ja schon lange beobachten."
Tim Hagemann, Arbeits- und Gesundheitspsychologe von der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld

Präsentismus - wenn ich krank zur Arbeit gehe

"Präsentismus heißt, wenn ich mich krank fühle, krank bin oder vielleicht auch krank diagnostiziert wurde, dass ich trotzdem zur Arbeit gehe", erläutert Tim Hagemann. Das liege unter anderem daran, dass Menschen in vielen Arbeitsbereichen eine hohe Verantwortung haben. Oft gebe es das Gefühl, dass kein Ersatz vorhanden ist. Hinzu komme, dass es in vielen Bereichen seit Langem hohe Krankheitszahlen gibt. Zu wenig Personal verstärke den Druck, trotz Krankheit arbeiten zu gehen.

Soziale Berufe

Inzwischen gebe es auch Menschen, die so ein großes Verantwortungsgefühl hätten, dass sie trotz Corona-Infektion, aber ohne Symptome, arbeiten gehen, beobachtet Experte Tim Hagemann.

Besonders in sozialen Berufen sei Präsentismus sehr verbreitet. Dazu gehören systemrelevante Berufe wie Erzieher*innen, Lehrer*innen und Menschen im Pflegepersonal, sagt Tim Hagemann.

Als weiteren Faktor für die Verbreitung des Präsentismus macht der Arbeits- und Gesundheitspsychologe den hohen Fachkräftemangel in Deutschland aus. Es sei schwierig, in diesen Zeiten die Arbeit aufrecht zu halten und kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir wegen Krankheit ein paar Tage ausfallen lassen.

"Ich glaube, dass dieser enorme Fachkräftemangel ein begünstigender Faktor sein wird für Präsentismus."
Tim Hagemann, Arbeits- und Gesundheitspsychologe von der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld

Anscheinend haben noch nicht einmal die Erfahrungen in der Coronavirus-Pandemie etwas daran geändert, dass Deutsche sehr häufig auch krank im Job zu erscheinen, so Tim Hagemann.

Viele Leute hätten die Befürchtung, als faul zu gelten, wenn sie nicht arbeiten, vermutet Mathias. Vielerorts würden Leute als besonders engagiert gelten, wenn sie ihren Job auch krank ausüben.

Dass aber Leute selbst mit einem positiven Corona-Test in den Betrieb gehen, ist für Tim Hagemann unverständlich: "Das überrascht mich auch." Denn diese infizierten Personen nehmen das Risiko in Kauf, andere anzustecken.

Jede*r Zweite geht mit Rückenschmerzen zur Arbeit

Dass einige Deutsche auch mit einem positiven Corona-Testergebnis zur Arbeit gehen, findet Reporter Mathias besonders bedenklich. Er vermutet, dass diese Haltung auch durch die politische Diskussion befördert wurde. "Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die fünftägige Isolationspflicht vor allem gegen Kritiker aus der FDP verteidigen musste", sagt Mathias.

Der SPD-Politiker argumentierte, dass die Abschaffung der Isolationspflicht bedeuten würde, dass auch Infizierte zur Arbeit gehen. Genau das tun aber inzwischen einige Leute. Auch wenn die Zahl nicht so hoch ist wie bei Menschen mit Rückenschmerzen und Allergien – dort ist es jede*r Zweit*e –, ist das Präsenzarbeiten mit ansteckenden Krankheiten nicht nur höchst unsolidarisch, sondern auch schlecht für die eigene Gesundheit.

"Es ist wichtig, sich zu erholen, damit das Immunsystem arbeiten kann."
Tim Hagemann, Arbeits- und Gesundheitspsychologe von der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld

Der Arbeits- und Gesundheitspsychologe appelliert an erkrankte Menschen, ihre Krankheit auszukurieren, damit das Immunsystem arbeiten kann. Dafür sollten wir Ruhezeiten einhalten, die Beine hochlegen und den Körper sich erholen lassen, damit er Krankheitserreger erfolgreich bekämpfen kann.

Tim Hagemann plädiert dafür, dass wir zu einer neuen Unternehmenskultur kommen, bei der Präsentismus eher eingedämmt wird. Chefinnen und Chefs sollten ihren Angestellten das Gefühl geben, wenn sie wegen Krankheit fehlen, dass sie ihre Krankheit in Ruhe zu Hause auskurieren können.

Shownotes
Präsentimus
Viele gehen krank zur Arbeit
vom 17. Oktober 2022
Autor: 
Mathias von Lieben, Deutschlandfunk-Nova-Reporter
Gesprächspartner: 
Tim Hagemann, Mitarbeiter der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld