Wenn es um psychische Gesundheit geht, hört man ganz oft den Begriff des inneren Kindes. Aber was ist das überhaupt und wie soll es beim Heilen helfen? Der Psychotherapeut Bastian Willenborg erklärt das Konzept.
Vielleicht kennt ihr das auch: Etwas passiert, das nicht so toll ist – aber eigentlich auch kein Drama. Trotzdem: Ihr reagiert überraschend emotional. Ihr fühlt euch vielleicht supertraurig. Und irgendwie kommt ihr euch gerade gar nicht mehr so erwachsen vor, sondern fühlt euch fast wieder wie ein Kind.
Dass wir uns in besonders emotionalen Zuständen jünger fühlen, passiert häufig, sagt der Psychotherapeut Bastian Willenborg. Deshalb fragt er seine Patient*innen in solchen Situationen: Wie alt fühlen Sie sich dabei?
"Das innere Kind ist eine relativ gute Metapher für unsere ganz frühen Prägung."
Was wir da spüren, wird auch als unser "inneres Kind" bezeichnet. Der Begriff ist eine Art Arbeitsmodell in der Psychotherapie. Diese Metapher helfe gut dabei herauszufinden, wie wir als Kinder mit Bedürfnissen und Emotionen in Verbindung gekommen sind und wie uns das heute noch beschäftigt – etwa, weil vielleicht einige unserer Bedürfnisse nicht erfüllt wurden oder weil wir den Umgang mit Emotionen nicht gut gelernt haben.
"Es ist ein Mangel geschehen in der Kindheit. Und da hilft uns dieses Konstrukt zu schauen: Wo kommt dieser Mangel her? Und was hat sich daraus entwickelt?"
Konkret geht es darum herauszufinden: Was haben die Bezugspersonen, die für uns wichtig waren, gemacht? Wie haben zum Beispiel Eltern, Lehrer oder auch andere Kinder auf uns reagiert? Und ganz wichtig: Wie haben wir gelernt, auf Bedürfnisse zu reagieren und Gefühle zu benennen? Und welche Glaubenssätze haben wir daraus entwickelt? Wie etwa: Ich mache immer alles falsch. Oder: Keiner liebt mich.
Erfahrungen, Gefühle und Glaubenssätze aus unserer Kindheit prägen uns als Erwachsene
Das innere Kind muss dabei aber nichts Negatives sein, wir können ja auch gute Erfahrungen gemacht und positive Glaubenssätze daraus abgeleitet haben. Etwa: Ich bin gut so, wie ich bin!
Bastian Willenborg benutzt in seiner Schematherapie, einer bestimmten Form der Psychotherapie, deshalb auch die Begriffe des "verletzten Kindes" und des "Happy Childs". Er differenziert also zwischen positiven und negativen Varianten – aber im Kern geht es um den gleichen Ansatz.
Die Suche nach dem inneren Kind
Wie nun das eigene innere Kind kennenlernen? Bastian Willenborg bittet seine Patient*innen, ihm solche besonders emotionalen Situationen zu beschreiben. Sie erleben diese Emotionen so noch einmal nach, erklärt er. Als Therapeut unterstützt er sie dann darin zu gucken: Wie hat sich das angefühlt? Wie hat sich mein Körper dabei gefühlt? Wo fühle ich zum Beispiel die Traurigkeit? Im Bauch? Als Druck in der Brust?
Und dann: Gibt es Erinnerung aus der frühen Jugend, aus der Kindheit, wo ich mich genauso gefühlt habe? Gibt es negative Erinnerungen, die mit diesem starken Gefühl verbunden sind? Affekt-Brücken nennt sich das – und genau die versucht Bastian Willenborg mit seinen Patient*innen zu identifizieren und zu bearbeiten.
Das klingt allerdings einfacher, als es ist. Denn viele Erwachsene sehen sich selbst gerne als reif und frei. Der Therapeut versucht ihnen dann zu erklären, dass es nicht darum geht, jemanden wieder zu verkindlichen oder nicht ernst zu nehmen, sondern mithilfe dieses Konstrukts herauszufinden, wo in der Kindheit ein Mangel geschehen ist und den mithilfe des Erwachsenen Ichs zu beheben.
Techniken, um das innere Kind zu heilen
Dafür gibt es unterschiedliche Methoden. Eine davon: imaginatives Arbeiten. Bastian Willenborg erklärt den Prozess so:
- Ich stelle mir Situationen vor, wie sie früher gewesen sind, und versuche durch die Visualisierung zu verstehen, dass ich nicht so traurig bin, weil jetzt etwas passiert, sondern dass das Ausmaß der Traurigkeit mit Ereignissen von früher zusammenhängt.
- Im nächsten Schritt versuche ich, diese Situation, die wir als auslösend erkannt haben, unseren Trigger also, zu verändern. Zum Beispiel können wir in Gedanken eine Hilfsperson einführen – uns etwa unser erwachsenes Ich vorstellen, dass unserem kleinen Ich dabei hilft, eine früher erlebte blöde Situation zu klären. Imagery Rescripting oder Imaginatives Überschreiben heißt diese Technik.
Eine andere Methode: Briefe an sich selbst schreiben. Hier geht es zum Beispiel darum anzuerkennen, dass damals etwas nicht gut gelaufen ist und zu sehen, dass vielleicht Trost angemessen gewesen wäre oder auch Verständnis. Auch Erklärungen können wir uns so liefern. Man kann sich das wie einen inneren Dialog mit dem früheren Ich vorstellen – und der kann eben heilsam sein.
"Gerade die ersten Jahre im Leben sind total wesentlich."
Dass die eigene Kindheit auch im Erwachsenenleben eine so große Rolle spielt, liegt daran, dass sich in den ersten Jahren unseres Lebens unsere Gehirnstruktur aufbaut, sagt Bastian Willenborg. In dieser Zeit bilden sich Netzwerke in unserem Kopf, werden Dinge miteinander verknüpft.
Auch in der Pubertät passiert dann noch mal sehr viel. Und bei all dem entstehen quasi Sollbruchstellen, so der Psychotherapeut. Und die können wir erkennen und kitten – oder zumindest so wenig gefährlich machen wie möglich, glaubt er. Zum Beispiel eben mithilfe des Konzepts des inneren Kindes.
Dieses Thema belastet oder betrifft dich und du suchst weitere Hilfe?
Hier findest du eine Übersicht zu Hilfsangeboten.
