Es ist bekannt, dass sich in Telegram-Chaträumen gewaltbereite Nutzerinnen und Nutzer über ihre Wut über die Corona-Schutzmaßnahmen oder Verschwörungsideologien austauschen. Was sie aber auch posten, sind Aufrufe zum Mord. Eine Recherche lässt jetzt erahnen, wie groß das Ausmaß ist.
Es sind Begriffe wie Galgen, erschießen oder auch aufhängen, die in Telegram-Chats zu Mordaufrufen gegen Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Mediziner*innen und Journalist*innen führen. Unter den Mitgliedern der Gruppen sind Anhänger der Querdenker-, Impfgegner- und Q-Anon-Szene. Und Menschen, die sich als Soldatinnen und Reservisten verstehen.
In ihren Chaträumen rufen sie dazu auf, Menschen zu töten – und seit Mitte November 2021 machen sie das täglich. Das zeigen die Recherchen von Journalist Jan-Henrik Wiebe, der geheime und offene Telegram-Chatgruppen für Funk ausgewertet hat. Alleine in den von ihm untersuchten Kanälen ist er auf mehr als 250 Mordaufrufe gestoßen.
Es sind Chatnachrichten, wie der Mordaufruf gegen Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, den Mitglieder der Querdenker-Szene auf Telegram gepostet haben. In diesem Fall ermittelt das Landeskriminalamt.
Bei ähnlichen Fällen hieß es in der Vergangenheit oft, es würde sich um Einzelfälle handeln. Die aktuellen Recherchen machen aber offensichtlich: Von Einzelfällen kann nicht mehr die Rede sein.
Im Gespräch mit Deutschlandfunk-Nova-Moderatorin Rahel Klein erzählt Journalist Jan-Henrik Wiebe, wie er verdeckt in den Chaträumen recherchiert hat, wie die Polizei auf das Ergebnis seiner Dokumentation reagiert hat und wie es ihm erging, nachdem seine Artikel dazu veröffentlicht wurden.
"Das Ausmaß ist gigantisch"
Rahel Klein: Jan-Henrik, wie hast du recherchiert? In manche Telegram-Gruppen kommt man ohne Weiteres nicht rein.
Jan-Henrik Wiebe: Richtig. Ich habe das quasi nach dem Pyramiden-Prinzip gemacht: Ich habe mit einer Gruppe beziehungsweise einem Kanal angefangen und dort nach Einladungslinks gesucht. Dann bin ich immer tiefer vorgestoßen, habe Schicht für Schicht abgetragen und bin in immer mehr Gruppen reingekommen.
Wenn man in vielen Gruppen ist, kann man über die Suchmaske Begriffe eingeben wie Guillotine, Galgen, erschießen, erhängen – all diese schlimmen Sachen – und dadurch bin ich auf die Aufrufe gestoßen.
Das heißt: Du hast gezielt nach Mordaufrufen geschaut. Von wem kommen die Aufrufe? Treten Leute auch mit ihren Klarnamen da auf?
Hätte ich noch nach Gewaltaufrufen gesucht, also einfache körperliche Gewalt, dann hätte ich wahrscheinlich an einem Tag die 250 voll gehabt.
Die Personen, die das dort schreiben, treten tatsächlich auch unter ihren Klarnamen auf, teilweise auch anonym. Es ist schwer zu sagen, ob das in einem Hälfte-Hälfte-Verhältnis ist, aber es ist schon sehr erstaunlich, dass Menschen ihre Namen offen legen – auch mit einem Profilbild von sich.
Die Menschen, die sich dort herumtreiben und das verbreiten, sind tatsächlich alle etwas älter, wahrscheinlich auch nicht so interneterfahren und denken, niemand außerhalb ihrer Szene würde es mitbekommen. Dass dort auch Journalistinnen und Journalisten unterwegs sein könnten, damit rechnen sie wahrscheinlich nicht.
Gibt es Gruppen, die dir besonders aufgefallen sind, wo beispielsweise besonders viele Mordaufrufe gepostet worden sind?
Es sind vor allem zwei Gruppen aufgefallen, die ich dem Verschwörer- und Q-Anon-Spektrum zuschreiben würde. Dort war etwas mehr als ein Drittel der Aufrufe getätigt worden. Ansonsten gab es auch noch ein Forum, wo sich vorgebliche Soldaten und Reservisten austauschen, dort gab es auch einige Aufrufe.
Das heißt: Es konzentriert sich auf bestimmte Gruppen. Wenn jemand einen Mordaufruf postet, widersprechen andere auch mal und sagen, das geht zu weit? Oder wie reagieren andere Leute in der Gruppe darauf?
Leider reagieren die Leute eher positiv darauf und posten noch einen Galgen darunter als animiertes Bildchen oder ein Snipergewehr – es ist wirklich schlimm.Aktuell gibt es unter anderem eine Todesdrohung gegen Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. In dem Zusammenhang ermittelt jetzt auch das Landeskriminalamt.
Hast du das Gefühl, dass die Polizei auf dem Schirm hat, was bei Telegram los ist und dass wirklich was passiert?
Nein, ich glaube nicht, dass die Polizei das komplett auf dem Schirm hat. Denn diese Dimension ist den Behörden bislang noch nicht bekannt. Dieses Ausmaß, dass dort täglich Todesdrohungen geschrieben werden, wie auch bei Manuela Schwesig, ist wirklich gigantisch. Eigentlich müsste die Polizei viel mehr machen. Bislang hat sie sich bei mir zum Beispiel aber noch nicht gemeldet.
War das auch das, was dich am meisten überrascht hat: das Ausmaß der Morddrohungen? Es hieß immer: Das sind vielleicht Einzelfälle. Die sind natürlich schlimm, aber das ist kein großes Phänomen. Deine Recherche zeigt eben: Es ist alles andere als ein Einzelfall.
Richtig. Es ist auch nur die Spitze des Eisberges, weil ich natürlich nicht alle Telegram-Gruppen durchsuchen kann – da ist noch viel mehr. Die Behörden müssten dringend aktiv werden.
Es gibt auch immer wieder Drohungen gegen zum Beispiel Medienvertreterinnen und Medienvertreter. Deine Recherche veröffentlichst du unter deinem richtigen Namen. Bist du deswegen auch schon bedroht worden?
Bislang noch nicht. Ich bin selbst ein bisschen überrascht. Aber: Der Artikel wurde dort auf jeden Fall schon aufgegriffen und mit Lach-Smileys versehen – mal gucken, was noch kommt.
Schützt du dich? Oder hast du Vorkehrungen getroffen?
Ja, ich bin anonym unterwegs und habe meine Nummer unterdrückt. Sie könnten mir also höchstens Direktnachrichten schreiben. Dann würde ich sie blockieren.