114 Tage schwarz-rote Regierung und schon kracht es wie nach Jahren: In Würzburg versuchten Union und SPD mit Selfies, Wein und Fußballtalk ihre Krise zu überspielen. Doch ungelöste Konflikte – von der Richterwahl bis zum Haushalt – bleiben bestehen.
Bei der Klausurtagung von Union und SPD in Würzburg ging es um nichts Geringeres als eine funktionierende Koalition und darum regierungsfähig zu sein. In den vorherigen 114 Tagen ist die schwarz-rote Koalition recht schnell und unsanft an die Grenzen der Kompromissbereitschaft in beiden Fraktionen geraten.
Bürgergeld-Reform, Richterwahl, schwache Wirtschaft: Vor der Sommerpause gab es viel Streit in der Koalition. Die Klausurtagung ist der Versuch der Fraktionsspitzen, die Streitereien hinter sich zu lassen, bevor der Bundestag nach der Sommerpause wieder zusammenkommt.
"Es gibt auf jeden Fall den Vorsatz, dass man besser zusammenarbeitet als in der Vergangenheit. Es ist völlig klar, dass es Verletzungen gab, das es gebrochenes Vertrauen."
Wie kann es gelingen, verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen und zu einer lösungsorientierten Form der Kommunikation zu gelangen? Vor allem die Spitzen der Fraktionen sind nun in der Vorbildfunktion und in der Pflicht, sagt Tabea Scheel, Arbeits- und Organisationspsychologin, die Expertin auf diesem Gebiet ist.
"Wie Führungskräfte sich verhalten, ist maßgeblich für das, was "unter ihnen" passiert. Die sind eigentlich dafür verantwortlich, wie die Menschen miteinander umgehen."
Dementsprechend bemühen sich Fraktionschefs Jens Spahn von der CDU, Matthias Miersch von der SPD und CSU Landesgruppenchef Alexander Hoffmann nach außen hin Einigkeit zu demonstrieren und ein optimistisches Bild abzugeben. Sie treffen sich zum Beispiel zu einem gemeinsamen Spaziergang über die alte Mainbrücke von Würzburg. Mit breitem Grinsen werden Selfies geschossen.
"Wir sprechen einfach über doch unterschiedliche Parteien gerade eben im Bereich Soziales und gerade in der Frage, wie viel Staat, wie wenig Staat."
Was genau bei der Klausurtagung besprochen wurde, wissen Journalist*innen nicht im Detail, sagt unsere Korrespondentin aus dem Hauptstadtstudio, weil die Gespräche unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden. Aber sie sagt, sie habe gehört, dass es sehr offen zur Sache gegangen sei.
Die Abgeordneten haben sich aber wohl nicht nur über Streitpunkte ausgetauscht, sondern auch darum gerungen, eine gemeinsame Linie in wichtigen Fragen zu finden. In einem Abschlusspapier mit dem Titel "Deutschland voranbringen" wurden zum Ende der Klausurtagung wesentliche Punkte des Koalitionsvertrags noch einmal zusammengefasst.
Auf Gemeinsamkeiten fokussieren
Für ein reibungsloseres Miteinander setzten die Fraktionsspitzen zudem auf ganz klassische Methoden: Teambuilding durch gemeinsame Aktivitäten von Abgeordneten zum Beispiel: ein Jogginglauf oder Gespräche über Hobbys. Was ist dein Lieblingsfußballverein? Das ist eine der Frage, die als "Eisbrecher" unter Abgeordneten dienen soll.
Wie verbindend das Thema Fußball ist, stellt die Psychologin Tabea Scheel infrage, weil es ja auch Leute gibt, die sich so gar nicht für diesen Nationalsport interessieren. Oder man supportet im Zweifel gegnerische Vereine.
"Was man sich hier auch überlegen muss: Wie man die gute Stimmung und die Zusammenarbeit, die man hier findet, in die Fraktionen trägt."
Außerdem wurde der Fokus auf politische Themen gelegt, bei denen ohnehin schon Einigkeit herrscht: beispielsweise die Unterstützung der Ukraine, die Stärkung der Nato und der Bundeswehr.
Vertrauen wieder aufbauen, Kommunikation in der Koalition verbessern
Eine Aussprache zu Beginn der Klausurtagung hält Tabea Scheel für eine gute Idee. Besonders, wenn es um Verletzung durch persönliche Angriffe geht, sagt sie. Es reicht auch, dass nur eine einzige Person in einer Gruppe das Bedürfnis für die Klärung eines Konflikts hat, sagt die Arbeits- und Organisationspsychologin.
"Führungskräfte müssen, wenn es persönlich wird, entschieden dazwischen gehen und dafür sorgen, dass es Ausgleiche und sachliche Diskussionen gibt."
Wahrgenommene Gemeinsamkeiten, beispielsweise Vorlieben, Werte und Einstellungen helfen uns zu bonden, also, eine Verbindung zu anderen herzustellen, sagt die Psychologin. Die übergeordnete Idee, über Hobbys zu reden, findet Tabea Scheel auch sinnvoll. Wenn sehr unterschiedliche Menschen zusammenkommen, gilt es ein möglichst wenig kontroverses Thema zu finden, um mit anderen zu connecten, sagt de Psychologin.
Wenn Tabea Scheel solche Prozesse begleitet, sei ihre Aufgabe zu moderieren, sagt sie. Sie achtet dann darauf,:
- dass die Themen, die einzelne mitbringen, ihren Raum finden
- dass bei abweichenden Meinungen respektvoll miteinander geredet wird
- dass Gesprächspartner nicht unterbrochen werden
- dass alle gehört werden
- dass andere Meinungen akzeptiert werden, ohne dass sofort widersprochen wird
Über Probleme sprechen und Kompromisse finden zu können, sieht die Psychologin als eine Win-win-Situationen, weil man dadurch erst zu Lösungen kommt, sagt sie.
Aber nicht jeder Konflikt lässt sich aus der Welt schaffen oder in eine Annäherung umkehren. In manchen Gruppen gibt es auch sehr unkooperative Menschen, die eher anderen schaden wollen, als in einer Sache weiterzukommen. Das könnte dazu führen, dass eine Auseinandersetzung einen Point of no Return erreicht, also in eine Sackgasse führt, sagt die Psychologin.
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