Viele Betroffene behalten Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt für sich, weil sie sich schämen oder Victim Blaming fürchten. Das "Sirens Collective" bietet eine Plattform, das Erlebte mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Kommunikationsdesignerin und Podcasterin Kim Hoss äußerte mal in einer Podcastfolge den Wunsch, dass sie in einer Welt leben möchte, in der jedes Mal eine Sirene ertönt, wenn eine Person sexualisierte Gewalt erlebt. Ihr Fazit war zu diesem Zeitpunkt, dass wir alle einen dauerhaft anhaltenden Sirenenton hören würden, der kaum zu ertragen wäre. Denn zu jeder Sekunde auf der Erde passiert genau das: Menschen erleben sexualisierte Übergriffe.

Rund ein Jahr später gründete Kim Hoss gemeinsam mit der Bildhauerin Lise van Wersch die Plattform "Sirens Collective". Denn die beiden wollten einen Platz schaffen, an dem Betroffene sich ohne Scham und Angst mitteilen können. Einen Ort, an dem sie Erfahrungen anonymisiert mit anderen teilen können. Zugleich einen Ort, der sexualisierte Übergriffe sichtbar macht und diese dokumentiert.

Die Plattform gibt es erst seit ein paar Monaten, aber es sind inzwischen schon rund 4.200 Einträge zusammengekommen, in denen Menschen ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt teilen.

"Dass man zum Beispiel in einem Club ist und ungefragt einen Finger irgendwo hineingeschoben bekommt, als weiblich gelesene Person."
Kim Hoss, Sirens Collective

Viele Opfer sexueller Nötigung und sexualisierter Gewalt hinterfragen ihr eigenes Verhalten und schämen sich für das, was sie erleben mussten und hadern damit, ob sie das, was ihnen angetan wurde, in irgendeiner Form mitzuverantworten haben.

Sie fragen sich möglicherweise: Warum habe ich nichts gesagt, warum habe ich mich nicht gewehrt, warum war ich so naiv? Dadurch fällt es ihnen im Zweifel schwerer, sich jemandem anzuvertrauen.

Safe Spaces, die keine sind: Überschreiten persönlicher Grenzen

Ob im Club, am Arbeitsplatz oder mit Freunden, Bekannten oder in der eigenen Familie – ein sexueller Übergriff, der für die oder den Betroffenen überraschend erfolgt, kann einem die Sprache verschlagen und zu Reaktionslosigkeit führen.

Zudem ist Victim Blaming kein seltenes Phänomen, das im öffentlichen Diskurs immer noch zu häufig stattfindet. Auch das hält sicherlich viele Betroffene davon ab, sexuelle Übergriffe öffentlich zu machen oder zur Anzeige zu bringen. Statt sich jemandem mitzuteilen, haben viele möglicherweise eher den Impuls, das Geschehene wegzuschieben, zu verdrängen.

Traumatische Erfahrungen, die einen sprachlos machen

Wenn persönliche Grenzen massiv überschritten werden, kann das traumatisieren. Es ist ein Schock, der viele erstarren lässt. Weil die Betroffenen zudem möglicherweise Schuldgefühle hegen, fällt es vielen dann auch schwer, sich anzuvertrauen.

Trotzdem sind die Gründerinnen von Sirens Collective überzeugt davon, dass es helfen kann, sich mitzuteilen und auch zu lesen, welche Erfahrungen andere Menschen gemacht haben, weil es einem das Gefühl geben kann, mit dem Erlebten nicht vollkommen alleine zu sein.

"Man weiß grob, was auf einen zukommen kann, gleichzeitig hat es mich wahnsinnig schockiert zu sehen, dass ganz viele Menschen, die dort ihren Beitrag geschrieben haben, sagen, dass es das allererste Mal ist, dass sie das herauslassen."
Lise van Wersch, Sirens Collective
Shownotes
Sirens Collective
Sexualisierte Gewalt sichtbar machen
vom 19. Mai 2023
Moderation: 
Markus Dichmann
Gesprächsparterinnen: 
Kim Hoss und Lise van Wersch, Sirens Collective