Nabiha kommt aus Somalia und gehört zum Stamm zu den Midgan, das ist eine Berufskaste. Doch ihre Jobs – sie sind Schmiede, Friseure, Schuhmacher – gelten als unrein, darum werden die Midgan in Somalia geächtet. Und zwar so sehr, dass Nabiha in ihrer Kindheit das Haus nur selten verlässt. Ihre Eltern haben Angst, dass ihr etwas zustößt. Als Nabiha 14 Jahre alt ist, flüchten ihre Eltern mit ihr nach Äthiopien. Aber dort leben viele Somalier – und Nabiha und ihre Familie haben weiter Angst um ihr Leben. Trotzdem gibt Nabiha ihren Traum von einem besseren Leben nicht auf.

In ihrer Kindheit verbringt Nabiha die meiste Zeit zu Hause. Das liegt daran, dass ihre Familie, die Abdis, zur Berufskaste der Midgan gehört, die in Somalia geächtet wird. Ihr Vater ist Schmied und arbeitet in einer Autowerkstatt, sein Beruf gilt als unrein.

Über die Midgan kursieren so viele Vorurteile, dass manche Menschen in Somalia sogar denken, sie seien wie Vampire. In der Gesellschaft sind sie unerwünscht. Nabiha erklärt das so: "In our tribe, when they are living in any place with Somalians, they can not talk. You can not have a chair and sit on the government."

"My tribes name it is Midgan. And the people they think about our tribe that we are vampires."
Nabiha über die Midgan

Dazu kommt: In Somalia herrscht Bürgerkrieg. In ihrer Kindheit kommt es in dem Viertel, in dem die Familie lebt, immer wieder zu Kämpfen. Somalia gilt als einer der fragilsten und unterentwickelsten Staaten der Welt. 1991 stürzte dieRegierung von Diktator Siad Barre. Danach folgte ein so schlimmer Bürgerkrieg, dass es mehr als 20 Jahre lang keine funktionierende Zentralregierung mehr gab.

Ab 2000 entstanden zwar immer wieder Übergangsregierungen unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Die hatten aber so wenig Macht, dass sie teilweise noch nicht mal die eigene Hauptstadt kontrollieren konnten. Das hat dazu geführt, dass ein Großteil des Landes nicht zentral regiert, sondern von Piraten, Warlords, nomadischen Clans und islamistischen Milizen beherrscht wurde.

Erst seit 2012 gibt es überhaupt wieder eine somalische Regierung. Aber es ist immer noch so, dass zum Beispiel die islamistische Al-Shabab-Miliz Teile des Landes kontrolliert.

Flucht von Somalia nach Äthiopien

Darum entscheidet sich Nabihas Familie irgendwann zur Flucht. Die Abdis landen in einem Flüchtlingscamp in Äthiopien, direkt an der Grenze zu Somalia nur 500 Kilometer von Mogadischu entfernt. Ihre Hoffnung auf ein besseres Leben müssen sie erstmal aufgeben. Im Camp gibt es kein fließendes Wasser, keinen Strom. Am Anfang haben sie nicht Mal ein Zelt, in dem sie schlafen können.

Trotzdem hofft Nabiha, dass sie hier endlich zur Schule gehen kann. An ihrem ersten Schultag versteht sie aber, dass in ihrer Klasse nur andere Mädchen aus Somalia sind. Sie hat Angst, dass sie sie als Midgan erkennen können und bleibt danach lieber zuhause.

Auch als die Familie das Camp verlassen darf und nach Addis Abeba ziehen darf, bleibt die Angst vor den anderen Somaliern. Denn andere Midgan warnen sie: "They say: Oh don’t go there, they will kill you, they are going to rape you. They say: Don’t go out. So you are in shock."

Hinzu kommt: Die Abdis bekommen in Äthiopien keine Staatsbürgerschaft. Ihre somalischen Papiere sind abgelaufen – die Familie ist staatenlos. Und weil Somalia kein funktionierender Staat ist, können die Abdis auch nicht einfach so mal neue Papiere beantragen. Sie können also nicht richtig ankommen und ein neues Leben anfangen.

"You have to be forever refugee without ID, without passport, without nationality, without anything. Who is going to accept you? Who is going to come to you? No one. This is very hard."
Nabiha Abdi

Nabiha gibt nicht auf

Nabiha weiß, dass sie für die Somalier immer eine Midgan bleiben wird, aber sie will trotzdem mehr vom Leben: Sie bringt sich selbst mehrere Sprachen bei. Amharisch, weil sie in Äthiopien lebt, und beim Fernsehgucken lernt sie noch Arabisch und Englisch. Obwohl sie keine Arbeitserlaubnis hat, jobbt sie manchmal als Übersetzerin.

Irgendwann lernt sie einen Mann kennen. Er ist auch Somalier, aber in Äthiopien geboren. Dass sie eine Midgan ist, spielt keine Rolle, sie erzählt es ihm nicht mal. Sie lieben sich, heiraten und Nabiha denkt, dass sie endlich glücklich sein kann. Sie wird sogar schwanger. Kurz danach erfährt ihr Mann, dass sie eine Midgan ist und stellt sie zur Rede.

"I said, you marry the tribe or you marry me? He said, no, I marry a tribe."
Nabiha Abdi über ihren Mann
Nabiha Abdi mit ihrem Sohn
© Sophia Bogner & Paul Hertzberg
Nabiha mit ihrem kleinen Sohn

Nabiha und ihr Mann trennen sich. Wieder einmal hat ihre Herkunft ihr Leben entschieden. Ihren Sohn erzieht sie heute allein – aber sie hat den Wunsch nach einem gerechten Leben noch lange nicht aufgeben. Mittlerweile kämpft Nabiha für die Midgan. Sie will zeigen, dass eine Midgan stolz und selbstbewusst sein kann.

Die ganze Geschichte von Nabiha hört ihr hier im Audio.

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Shownotes
Die Midgan aus Somalia
Nabiha will keine Ausgestoßene mehr sein
vom 20. März 2020
Moderation: 
Paulus Müller
Autor*innen: 
Sophia Bogner & Paul Hertzberg