Millionen von Menschen in Deutschland sind abhängig von Alkohol, illegalen Drogen oder anderen Suchtmitteln. Wer diesen Menschen helfen will, darf sie nicht bevormunden und verurteilen, so der Bielefelder Suchttherapeut Martin Reker. Suchterkrankte brauchen ein Ziel, ein Netzwerk und positive Verstärkung, erklärt er in seinem Vortrag.
Laut Bundesgesundheitsministerium sind 1,6 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig, 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten, 600.000 pflegen einen "problematischen Konsum" von illegalen Drogen, zwölf Millionen Menschen rauchen. Wer selbst zu einer dieser Gruppen zählt, oder etwa von Glücksspiel oder dem Internet abhängig ist, weiß wie schwer es ist, einen Weg aus der Sucht zu finden.
"Sucht ist nicht einfach nur irgend so eine Krankheit im Kopf, wo irgendwelche Synapsen verkehrt gepolt sind und dann irgendein Suchtdruck Dinge macht, die für die Person völlig unsinnig sind. Sondern: Suchtmittelkonsum macht für Suchtkranke immer Sinn."
Sinnstiftende Lebensziele als Weg aus der Sucht
Vielleicht war der Weg bisher nur der falsche? In seinem Vortrag "Abhängig und dennoch selbstbestimmt – Wege aus der Sucht finden" stellt der Bielefelder Psychiater und Suchttherapeut Martin Reker einen Therapieansatz vor, mit dem es Suchtkranken leichter gemacht werden soll, sich aus der Abhängigkeit zu befreien.
"In einer Gesellschaft, wo man überall Alkohol kaufen kann, kann niemand jemandem von Alkohol oder anderen Drogen abhalten, wenn er selber das nicht will."
Statt Suchterkrankte zu bevormunden oder verändern zu wollen, setzt er unter anderem auf Entscheidungsfreiheit, positive Verstärkung, das Finden sinnstiftender Lebensziele und ein individuell abgestimmtes Hilfsnetzwerk, um diese zu erreichen.
Denn Verzicht sei eine enorme Leistung, die respektiert werden müsse, so Martin Reker. Und wenn Abhängige diese Leistung erbringen sollen, dann täten sie es nur, wenn das für sie auch irgendwie sinnvoll sei.
Abstinenz als Mittel, um Lebensziele zu erreichen
Die Patientinnen und Patienten sollen die Erfahrung machen können, dass ein Leben ohne oder mit weniger Konsum von Alkohol, Drogen oder anderen Suchtmitteln für sie besser ist als ein Leben in der Abhängigkeit. Sie brauchen Unterstützung dabei, ein Ziel auszumachen, das den Verzicht lohnend macht, so der Psychiater. Abstinenz ist in diesem Modell also kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck.
"Niemand kann abstinent werden wollen, wenn es gar kein Ziel gibt, das das lohnend macht."
Im Weiteren, so Martin Reker in seinem Vortrag, benötigen sie Unterstützung dabei, ihre Rahmenbedingungen so zu verändern, dass dieses Ziel auch wirklich erreichbar ist – durch praktische Hilfe genauso wie durch positive Verstärkung. Für den Abhängigen müsse deshalb eine Art individuell angepasste "Verantwortungsgemeinschaft" aufgebaut werden – ein Team nicht nur aus Ärzten oder Therapeuten, sondern auch aus Arbeitgebern, Behörden und persönlichem Umfeld zum Beispiel.
Der Vortragende: Martin Reker ist leitender Arzt der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel in Bielefeld. Dort hat er in Zusammenarbeit mit Behörden und anderen Stellen den aus den USA stammenden Therapieansatz "Community Reinforcement Approach" (CRA) adaptiert, zu Deutsch: Gemeindeunterstützte Suchttherapie.
Der Vortrag: In seinem Vortrag erklärt er, was Süchtige seines Erachtens brauchen, um aus der Sucht herauszufinden und wie der Ansatz der Gemeindegestützten Suchttherapie in Bielefeld umgesetzt wird. Aufgezeichnet wurde der Vortrag am 06.11.2019 im Rahmen der Kongress-Messe ConSozial, die jährlich vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales veranstaltet wird.