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Im Erdbebengebiet in der Türkei herrscht weiterhin Not: Es kommt zu Überschwemmungen durch massive Regenfälle. Präsident Erdoğans Wiederaufbaupläne erscheinen Kritikern als unrealistisch. Welchen Effekt das auf die Wahlen im Mai haben wird, bleibt offen.

Die Erdbeben Anfang Februar in der Türkei haben rund 50.000 Menschen das Leben gekostet. Viele Menschen haben dabei ihr Zuhause verloren. Allein in der Stadt Antakya sollen 85 Prozent der Häuser zerstört worden oder durch die Schäden unbewohnbar sein. Seitdem wurden rund 14.000 weitere Nachbeben registriert.

Zudem haben in der Region massive Regenfälle eingesetzt, die zu Überschwemmungen geführt haben. In der Stadt Hatay wurden in den vergangenen Tagen ganze Zeltstädte überschwemmt, berichtet unser Türkei-Korrespondent Uwe Lueb.

"Eine große Wut auf den Staat ist da. Viele Menschen fühlen sich allein gelassen."
Uwe Lueb, Türkei-Korrespondent

In den Provinzen Adıyaman und Şanlıurfa im Südosten der Türkei seien teilweise mehr als 100 Liter Regen auf einen Quadratmeter gefallen. Dadurch reißen Bächen, die über die Ufer treten, Menschen, Autos und Container mit. Bisher ist die Rede von fünf Toten und mehreren Vermissten.

Erdoğan kündigt schnellen Aufbau an - Experten sehen es kritisch

Der türkische Präsident Erdoğan hat angekündigt, dass die betroffenen Gebiete innerhalb eines Jahres wieder aufgebaut werden und in den kommenden zwei Monaten mit dem Bau von 240.000 neuen Wohnungen in den Städten und 75.000 neuen Häusern in den ländlichen Regionen begonnen werden soll. Mit dem Bau von 22.000 neuen Wohnungen sei bereits begonnen worden.

Wie genau das funktionieren soll, sei Erdoğans Geheimnis, wenn man es böse formulieren würde, sagt unser Korrespondent. Zum einen sei die logistische Herausforderung so groß, dass Baufirmen aus dem ganzen Land nur noch im Erdbebengebiet bauen müssten, um diese Vorgaben erfüllen zu können.

Städteplanung im Hauruckverfahren

Zum anderen hat ein Bauingenieur der Architektenkammer Istanbul das Vorhaben als zu früh kritisiert. Man müsse erst weitere Nachbeben abwarten.

"Viele machen die Behörden vor Ort verantwortlich, viele aber auch die Zentralregierung, denn die hat immer wieder mit Strafnachlässen dafür gesorgt, dass Baubetrüger am Ende glimpflich davongekommen sind."
Uwe Lueb, Türkei-Korrespondent in Istanbul

Derweil schürt die Wut gegen die Versäumnisse des Staates und die Ankündigung eines zügigen Wiederaufbaus den Konflikt zwischen Anhängern und Gegnern Erdoğans, die sich deswegen in Istanbul auf offener Straße lautstark streiten, berichtet Uwe Lueb.

Viele seiner Kritiker sehen eine Mitverantwortung bei Präsident Erdoğan für die vielen Menschen, die im Erdbeben umgekommen sind. Denn die Bauvorschriften sind eigentlich streng. Wären diese eingehalten worden, gäbe es wahrscheinlich wesentlich weniger Tote, fasst Uwe Lueb den Standpunkt der Kritiker zusammen.

Ausgang der Wahlen nicht absehbar

Bereits vor dem Erdbeben war die wirtschaftliche Situation im Land angespannt und die Inflationsrate sehr hoch. Schon damals hatte sich die Stimmung gegen die Regierung gerichtet. Das Erdbeben hat diese Haltung in Teilen der Bevölkerung womöglich verstärkt, sagt Uwe Lueb.

Vor dem Erdbeben ging der sozialdemokratische CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu bei Umfragen als möglicher Herausforderer Erdoğans als klarer Verlierer gegen den amtierenden Präsidenten hervor.

Kılıçdaroğlu liegt in Umfragen vor Erdoğan

Nun ist Kemal Kılıçdaroğlu seit anderthalb Wochen offiziell der Kandidat des Oppositionsbündnisses. Der CHP-Chef liegt in neuen Umfragen sehr weit vor Erdoğan. Das müsse aber nicht unbedingt Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben, schätzt Uwe Lueb ein.

Er geht davon aus, dass Erdoğan um den Wahlsieg und Machterhalt kämpfen werde. Eine Strategie, die er bereits anwendet: Er hat den Wahlkampf für - mehr oder minder - überflüssig erklärt mit der Begründung, dass alle Kraft für die Bewältigung der Erdbebenfolgen eingesetzt werden sollte. Diese Taktik könnte dazu dienen, der Opposition den Wahlkampf zu erschweren, sagt Uwe Lueb. Der Korrespondent hält es für möglich, dass Erdoğan mit dieser Strategie am Ende sogar Erfolg haben könnte.

Shownotes
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
Türkei: Erdbeben, Überschwemmung und dann die Wahlen
vom 15. März 2023
Moderation: 
Nik Potthoff
Gesprächspartner: 
Uwe Lueb, Türkei-Korrespondent in Istanbul