Russlands Präsident Putin hat seinen Anspruch auf das Nachbarland Ukraine auch aus der Geschichte abgeleitet. Aber haben seine Darstellungen etwas mit der Realität zu tun?
Fast eine Stunde lang hat der russische Präsident Anfang der Woche versucht, den Angriff auf die Ukraine aus historischer Perspektive zu begründen.
Kiewer Rus: Gründungsmythos einer Region
Putin behauptet, die Ukraine sei von Russland "erschaffen" worden. "Das ist Unfug", sagt Deutschlandfunk-Nova-Geschichtsexperte Matthias von Hellfeld. Es gebe aber eine gemeinsame Wurzel: die Kiewer Rus, ein historisches Gebiet in Osteuropa, das 988 nach Christus gegründet wurde.
Im Süden wurde dieses Gebiet von Kiew begrenzt, im Norden von der Stadt Novgorod. Das Kerngebiet erstreckte sich um den Fluss Dnepr. Hauptort war Kiew, das kulturelle Zentrum war Novgorod. Dazu zählen kann man außerdem das Gebiet des heutigen Belarus.
"Die Rus war das Kerngebiet des historischen Russlands. Seine Blütezeit war etwa im 11. Jahrhundert."
In der Rus lebten vor allem Ostslawen, der Name "Rus" leitet sich vom Volk der Rus ab, das wahrscheinlich eine normannische Abstammung hatte. Bis heute ist das im Namen Russland erhalten geblieben. Das in dieser Region lebende Volk hat also eine gemeinsame Wurzel, Sprache und Kultur, bestätigt Matthias von Hellfeld. Die Blütezeit dieses historischen Gebildes war im 11. Jahrhundert.
Mongolensturm: Die Rus zersplittert
Dass Moskau zum Zentrum des Reichs der Rus wurde, hatte mit dem sogenannten Mongolensturm im Jahr 1237 zu tun. Die Kiewer Rus wurde dabei unterworfen – das war der Anfang vom Ende. Sie war in der Folge lange Zeit abhängig von den Mongolen, von der sogenannten Goldenen Horde. Bis etwa 1400 war die Rus tributpflichtig an mongolische Herrscher.
Die Folge: Das historische Gebilde zersplitterte und russische Fürstentümer spalteten sich ab. Ab ca. 1350 wurde dann Moskau zum Zentrum eines großen russischen Fürstentums. Durch Eroberung und Heiratspolitik wurde diese Macht immer weiter ausgebaut.
Moskau wird zum neuen Zentrum
Das Jahr 1472 ist dabei ein sehr wichtiges: Der Großfürst von Moskau heiratete in diesem Jahr die Nichte des letzten oströmischen Kaisers. 30 Jahre vorher, 1453, hatten die Osmanen Konstantinopel erobert. Der Großfürst übernahm dann 1482 den Doppeladler des oströmischen Kaisers, den wir heute noch im russischen Wappen sehen – und Moskau wurde zum Zentrum des orthodoxen Christentums.
Die ehemalige Rus, das Kerngebiet rund um den Fluss Dnepr, hatte zu diesem Zeitpunkt schon massiv an Bedeutung verloren. Es wurde jetzt als "Ukraina" bezeichnet – übersetzt bedeutet das "Grenzland".
"Moskau wird 1472 zum Zentrum des orthodoxen Christentums. Die ehemalige Rus wird jetzt als 'Ukraina' bezeichnet, als 'Grenzland'."
166 Jahre später – 1648, unter Führung der Kosaken – wurde dieses Grenzland dann von polnischer Herrschaft befreit. Das heutige Polen und Litauen war zu dieser Zeit ein mächtiger europäischer Flächenstaat und hatte die Herrschaft über "Ukraina" übernommen.
Nur sechs Jahre später, im Jahr 1654, unterstellten sich die Kosaken freiwillig der Oberherrschaft des Moskauer Zaren. Das Gebiet der Ukraine wurde also in das Einflussgebiet Moskaus integriert.
Ukrainische Nationalbewegung wurde unterdrückt
Eine ukrainische Nationalbewegung, die auf einen eigenen Staat abzielte, gab es schon damals. Man wollte sich der Vorstellung eines dreieinigen Russlands aus Großrussen (Russen), Kleinrussen (Ukrainern) und Belarussen (Weißrussen) nicht anschließen.
Diese Nationalbewegung wurde aber erfolgreich unterdrückt, sagt Matthias von Hellfeld. Von einer Liebesheirat könne man also definitiv nicht sprechen, es sei viel Zwang dabei gewesen.
"Mit den 'gemeinsamen Wurzeln', von denen Putin spricht, ist es nicht so einfach. Sprache, Kultur und Traditionen der Ukrainer wurden lange Zeit verfolgt, unterdrückt und verboten."
Im Jahr 1922, von Lenin gegründet, waren Russland, Belarus und die Ukraine dann die Gründungselemente der UdSSR, der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken.